Gegenstand

 

Die Website ist das Resultat eines bilateralen Projektes, in dem ein Team von Forschern Repräsentationen Europas in deutschen und französischen Geschichtsschulbüchern der vergangenen einhundert Jahre analysierte. Dazu wurden Texte, Karten und Bilder unter der Fragestellung untersucht, inwieweit Deutungen Europas explizit oder implizit über die Erzählungen von Nation und Welt Eingang in die Schulbücher gefunden haben. Im Zentrum stand die Frage, zu welchen Zeiten, in welcher Form und mit welchen Zielsetzungen spezifische Konstrukte und Deutungen von Europa, Europäizität und „dem Europäer“ in den jeweiligen nationalen Kontexten präsentiert wurden und ob sich diese als Integrations- oder Abgrenzungsdiskurse deuten lassen. Untersucht wurde diese Frage anhand zweier Nachbarstaaten, die sich lange Zeit als „Erbfeinde“ gegenüberstanden, jedoch später als Motor des europäischen Einigungsprozesses agierten und inzwischen sogar ein gemeinsames Geschichtsbuch erarbeitet haben.

 

 

Marie-Cécile Goldsmid, 1848: « Un marché sous la République universelle démocratique et sociale ». Lithograf Frédéric Sorrieu, Kolorierte Lithographie, 1849, Paris, Musée Carnavalet.
Marie-Cécile Goldsmid, 1848: « Un marché sous la République universelle démocratique et sociale »

Ziele 

1. Das Ziel des Projekts bestand in der systematischen Erfassung und vergleichenden Analyse zentraler Ereignisse, Vorstellungen, Wertzuschreibungen und Erwartungen, die in Frankreich und Deutschland mit dem Konzept Europa assoziiert worden sind. In diesem Zusammenhang wurde der Frage nachgegangen, inwiefern Europa als Werte-, Religions- und Erinnerungsgemeinschaft, soziale Praxis, Handlungs- und Wahrnehmungsraum, geographische Entität, sozialstaatlicher und sprachlicher Raum oder als politischer Code beschrieben wurde. Der Fokus richtete sich dabei auf die Herausarbeitung der Wechselwirkung von nationalen und europäischen Identitätskonstrukten.

2. Die Annäherungen, Konvergenzen und Konflikte, mit denen Schulbuchautoren deskriptiv oder visuell Europa Kontur verleihen, wurden auch auf die Entstehung von transnationalen Identitätsbildungsprozessen hin befragt. Die unterschiedlichen methodischen Ansätze, die der Analyse zugrunde liegen, wurden insofern in ein innovatives und originelles Forschungsdesign übersetzt, als das Medium Schulbuch von der Forschung noch kaum als Quelle zur Rekonstruktion von Identitätsbildungsprozessen in transnationalen Räumen genutzt worden ist.

3. Bisherige Forschungen haben deutlich gemacht, dass die „Nation“ in den Lehrbüchern beider Länder zumindest bis 1945 die Hauptkategorie für die Strukturierung des historischen Narratives gebildet hat. Die Identifikation mit der eigenen Nation und die Abgrenzung vom Nachbarn trugen erheblich zur Selbstfindung als französische vs. deutsche Staatsbürger bei. Das Projekt untersucht, inwieweit diese nationalen Deutungen in der Auseinandersetzung mit und um Europa entwickelt – abgeschwächt oder verstärkt – worden sind. Da der Rekurs auf signifikante europäische Werte zugleich Rückschlüsse auf die Selbstdarstellung der eigenen Nation zulässt, stellte sich die Frage, inwieweit „das Europäische“ aus der bilateralen Beziehungsgeschichte zum Nachbarland erklärbar ist und inwieweit Europa zur Legitimierung der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung als Argument herangezogen wurde.

4. Auf der Basis der Schulbuchanalysen wurde eine aussagefähige und für die Forschung und Lehre verschiedener Disziplinen nutzbare Quellensammlung generiert, die auf dieser Website präsentiert wird. Autoren- und Quellentexte, Abbildungen und Karten, die für die Fragestellungen dieses Projektes zentral waren, wurden ediert und in die jeweils andere Sprache und ins Englische übersetzt. Durch eine wissenschaftliche Kommentierung erfolgt eine Einordnung in den jeweiligen gesellschafts- und bildungsgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung und eine Würdigung ihrer Bedeutung im relevanten Schulbuch. Ein detailliertes Stich- und Schlüsselwörterverzeichnis eröffnet den Benutzerinnen und Benutzern eine differenzierte Recherche in deutscher und französischer Sprache. Gleichzeitig haben die vorgestellten deutschen und französischen Quellen Eingang in die Plattform "EurViews. Europa im Schulbuch" gefunden.

 

Quellen und Methoden

Die empirische Grundlage der Studie stellen Schulbücher der gymnasialen Oberstufe aus den Beständen des Centre d’Études, de Documentation et de Recherches en Histoire de l’Éducation (CEDRHE/Montpellier), der Bibliothèque Nationale de France (BNF/Paris), des Institut Français de l‘Éducation (ifé/Lyon) und des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (Braunschweig) dar. Das Untersungungsdesign basiert auf einer qualitativen Inhaltsanalyse der Schulbücher und einem systematischen Vergleich der erhobenen deutschen und französischen Quellen. Um neben der synchronen auch diachron vergleichende Analysen durchführen zu können, wurde ein langer Untersuchungszeitraum gewählt. Dabei orientierte sich die Betrachtung der Europarepräsentationen an sieben historischen Querschnitten (um 1910 – 1925 – 1940 – 1955 – 1970 – 1985 – 2000), die die curricularen Vorgaben beider Länder, die politischen Zäsuren und die großen Wenden der „europäischen“ Geschichte berücksichtigen. Da zwischen beiden Ländern „Zeitverschiebungen“ existieren, die etwa durch Lehrplanänderungen beider Länder, die unterschiedlichen politischen Systeme in Frankreich und den beiden Teilen Deutschlands oder divergierende nationale Ansichten über historische Wendepunkte und Brüche bedingt waren, handelt sich bei diesen Zeitachsen um „weiche Daten“, die nicht auf ein bestimmtes Datum fixiert sind, sondern lediglich grobe Orientierungsmarken setzen, um die Einordnung der Quellen in ihren jeweiligen bildungsgeschichtlichen und historischen Kontexten zu ermöglichen.

 

Ergebnisse

1. Die Ergebnisse der Analyse konnten die bisherigen Interpretationen der französischen und deutschen Forschung in mehrfacher Hinsicht korrigieren oder ergänzen. Sie zeigen, dass die Darstellung der Europarepräsentationen im Verlauf des 20. Jahrhunderts weder aus wissenschaftlicher noch aus didaktischer Perspektive einer linearen Entwicklung gefolgt sind. Im Gegenteil, auf Perioden wissenschaftlicher und didaktischer Innovation folgten immer wieder Phasen einer Rückkehr zu einer verengten Nationalgeschichte oder zu essentialistischen Europarepräsentationen, die gerade durch die historische Langzeitperspektive der Untersuchung deutlich herausgearbeitet werden konnten. Während das Geschichtsnarrativ in französischen Lehrwerken bisher als eine Geschichte der kontinuierlichen Versachlichung und Zurückdrängung der „nationalen Meistererzählung“ dargestellt wurde, konnte hingegen eine Verstärkung eben solcher Narrative seit den 1980er Jahren nachgewiesen werden. Im Gegenzug hat die Analyse deutlich gezeigt, dass fortschrittliche Autoren, wie Jules Isaac auf französischer und Franz Schnabel auf deutscher Seite, bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Europäischen Union über die Perspektiven einer „Einheit“ Europas nachdachten und deren Erfolgsaussichten und Schwierigkeiten in einer historischen Langzeitperspektive reflektierten.

2. Die verbreitete Ansicht über den allgemeinen Konsens im Hinblick auf den Gedanken eines vereinten Europas nach dem aktuellen Muster der Europäischen Union konnte korrigiert werden. Die Autoren der deutschen und französischen Schulbücher schreiben keine Fortschrittsgeschichte, die selbsterklärend in der Europäischen Union mündet. Die Europarepräsentationen in den französischen Lehrwerken der 1960er bis 1980er Jahre machen deutlich, dass die Schulbuchautoren die Vereinigung Europas durchaus wünschen und gleichzeitig die politische Praxis des Vereinigungsprozesses ablehnen konnten. Auf deutscher Seite konnten drei größere europäische Erzählstränge in den 1950er, 1980er Jahren und in aktuellen Schulbüchern ausgemacht werden, die aber seit den 1980er Jahren das nationale Erzählnarrativ nicht zu überdecken vermögen. Die Entwicklungen nach 1989, etwa die Entstehung neuer Nationalismen, fließen insbesondere im Zusammenhang mit der Ost-Erweiterung der Europäischen Union in die Schulbuchtexte in Form von Fragen an die Schüler, Karikaturen oder auch kritischen Textpassagen ein.

3. Die Relation zwischen nationaler und europäischer Identität und die jeweiligen Strategien und Beweggründe, die in Frankreich und in Deutschland gleichermaßen dazu führen, dass diese beiden Identitätsbildungen zur Deckung gebracht oder einander gegenübergestellt werden, ergab zahlreiche Konvergenzen in den Europadarstellungen beider Länder. Die Analyse verdeutlicht, dass diese in der Zeitgeschichte voranschreitende, auffallende Übereinstimmung der Europabilder vor allem auf die kulturellen Transfers zurückzuführen ist, die seit den 1950er Jahren durch Schulbuchforscher und Historiker beider Länder getragen werden und zur Erarbeitung zahlreicher gemeinsamer Lehrmaterialien wie auch Lehrbücher geführt haben. Die in solchen Gremien herausgearbeiteten Lehrwerke wie das gemeinsame deutsch-französische Geschichtsbuch vermögen in besonderer Weise Verbindungen zwischen bestehenden Bildgedächtnissen zu schaffen. In neueren deutschen Schulbüchern geschieht das z.B. dadurch, dass auch französische Dokumente, wie Abbildungen zum Kolonialismus, wiedergegeben werden und damit die französische Perspektive Eingang ins deutsche Schulbuch findet. Diese Entwicklung belegt, wie über Schulbücher aus solchen binationalen Kontexten ein transnationaler Erinnerungsraum erwächst.

Veröffentlichungen

  • Nouvel, Maguelone, L’Europe en images : les représentations de l’Union Européenne dans les manuels d’histoire d'aujourd'hui, in: Bourgeois, G.; Hyech, H. (Hg.), Signes, couleurs et images de l'Europe. Actes du colloque de Poitiers, janvier 2009, Rennes 2011, S. 239-256.
  • Anklam, Ewa; Nouvel-Kirschleger, Maguelone, Un exemple de recherche binationale : « Images de l'Europe et de la Méditerranée dans les manuels scolaires français et allemands », in: Boutan, Pierre u.a. (Coord.), La Méditerranée des Méditerranéens à travers leurs manuels scolaires (Manuels scolaire et sociétés. Collection dirigée par Michèle Verdelhan-Bourgade), Paris 2011, S. 45-70.
  • Sammler, Steffen, Jeux de miroir. Europa im Spiegel von Bildungsmedien, in: Eckert. Das Bulletin 9 (2011), S. 24-25.
  • Anklam, Ewa; Grindel, Susanne, Europa im Bild – Bilder von Europa: Europarepräsentationen in deutschen, französischen und polnischen Geschichtsschulbüchern in historischer Perspektive, in: Heinze, Carsten; Matthes, Eva (Hg.), Das Bild im Schulbuch (Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung), Bad Heilbrunn 2010, S. 93-108.
  • Lässig, Simone; Fuchs, Eckhardt, Europa im Schulbuch, in: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 1 (2009), S. 60-66.
  • Anklam, Ewa; Rülling, Ines, Bilder in Schulbüchern, in: Eckert. Das Bulletin 4 (2008), S. 36-38.
  • Fuchs, Eckhardt, Konkurrenz und Konvergenz: Ein deutsch-französisches Forschungsprojekt, in: Eckert. Das Bulletin 3 (2008), S. 27-29.

Projektleitung
Simone Lässig, Eckhardt Fuchs, Christian Amalvi

Projektmitarbeiter/innen
Ewa Anklam, Maguelone Nouvel-Kirschleger, Steffen Sammler

Kooperation
Université Paul Valéry/Montpellier III; Centre d’Études, de Documentation et de Recherches en Histoire de l’Éducation (CEDRHE)

Projektlaufzeit
März 2008-Mai 2011

Danksagung
Für ihre Mitarbeit an der fachlichen und technischen Gestaltung der Internetplattform bedanken wir uns herzlich bei unseren Kolleginnen und Kollegen Susannne Grindel, Brigitte Morand, Kerstin Schwedes, Florian Aue, Pierre-Yves Kirschleger, Mirko Nels, Rainer Riemenschneider, Robert Strötgen, den Editorinnen und Editoren Katherine Ebisch-Burton, Wendy A. Kopisch, Lorraine Pastore, Isabelle Quilléveré-Eberle, Liesel Tarquini, Nicola Watson und Peter Carrier sowie den zahlreichen studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

Unser besonderer Dank gilt den deutschen und französischen Schulbuchverlagen und den Bildarchiven und Museen, die uns die Autoren- und Bildrechte für die Internetplattform zur Verfügung gestellt haben.