"Das vereinte Europa: Wiege einer neuen westlichen Kultur?"

1975 – Das französische Bildungssystem im Zeichen der Reform

Der Präsident der V. Republik, Charles de Gaulle, versprach bei seinem Amtsantritt, Frankreich zu einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu entwickeln. Die Erhöhung des Bildungsgrades breiter Bevölkerungsschichten bildete dafür eine wichtige Voraussetzung. Sie entsprach zum einen der verstärkten Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften aus den Reihen der Unternehmer und korrespondierte zum anderen mit der durch den demographischen Boom geförderten Zunahme des Wunsches nach höherer schulischer Bildung in der jungen Generation selbst.
Gleichzeitig schuf die Verfassung der V. Republik günstige Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Vorhabens, da sie die Befugnisse der Exekutive gegenüber dem Parlament stärkte und es gestattete, Schulreformen ohne Zustimmung des Parlaments auf dem Weg der Verordnung durchzusetzen.
Die Regierung verlängerte die Schulpflicht im Jahr 1959 bis zum 16. Lebensjahr und führte 1963 in Gestalt der collèges d’enseignement secondaire einen neuen Schultyp ein, der ein wichtiges Bindeglied für die Schaffung einer einheitlichen Sekundarstufe bildete, die im Jahr 1975 erfolgte. Die Reform des Bildungsministers René Haby reduzierte die grundständigen Gymnasien, die bisher mit der 6. Klasse begonnen hatten, auf die Klassen 10 bis 12 und schuf in Gestalt des collège unique eine einheitliche Mittelschule, die für alle Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 6 bis 9 verbindlich war. Das collège unique verzichtete auf eine fachspezifische Leistungsdifferenzierung nach dem Vorbild der britischen comprehensive school oder der deutschen Gesamtschule, da die Bildungspolitiker der V. Republik in einer frühen Leistungsdifferenzierung eine versteckte Selektion sahen, die dem Anspruch einer einheitlichen Grundbildung für alle Schülerinnen und Schüler widersprach. Nachdem die Schülerinnen und Schüler eine vierjährige Ausbildung am collège durchlaufen hatten, konnten sie ihre schulische Ausbildung in der Sekundarstufe II fortsetzen und dabei zwischen einem allgemeinen oder einem auf die angewandten Natur- und Technikwissenschaften orientierten Abitur wählen. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich nicht für eine weiterführende Bildung bis zum Abitur entschieden, erwarben in Gestalt des brevet d’études professionnelles (BEP) einen beruflichen Abschluss.
Gleichzeitig schuf die französische Regierung unter de Gaulle eine gesetzliche Grundlage für die Lösung des Konfliktes mit den konfessionellen Schulen in privater Trägerschaft, der die bildungspolitischen Auseinandersetzungen seit der III. Republik bestimmt hatte. Sie reagierte damit auch auf einen Stimmungswechsel in der öffentlichen Meinung, der sich darin ausdrückte, dass sich die Hälfte der Französinnen und Franzosen ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für eine finanzielle Förderung des privaten Schulwesens durch den Staat aussprach. Die Reform des gaullistischen Bildungsministers Michel Debré sicherte den privaten Schulen die finanzielle Unterstützung des Staates zu. Im Gegenzug mussten diese den Nachweis der Nachfrage nach einem privaten Bildungsträger erbringen und sich in einem Assoziationsvertrag (contrat associatif) der Kontrolle des Staates unterwerfen. Dafür entschied sich die Mehrheit der privaten Schulen. Neben dem Assoziationsvertrag räumte der Staat den privaten Schulen auch die Möglichkeit der Kooperation im Rahmen eines Vertrages ein, der finanziell weniger lukrativ als der Assoziationsvertrag war, der privaten Schule aber größere Freiräume einräumte (contrat simple). Die weitere Ausgestaltung dieser Gesetzgebung führte in den 1970er Jahren zu einer Erweiterung der finanziellen Beteiligung des Staates bei gleichzeitiger Erhöhung der Autonomie der privaten Schulen. Diese Politik fand die Zustimmung der französischen Bevölkerung, die sich zu 77 Prozent für die Förderung der privaten Schulen durch den Staat aussprach.
Die Reformen der 1970er Jahre strebten eine Verbindung von struktureller Modernisierung und curricularer sowie methodischer Erneuerung des Unterrichts an, die das französische Bildungssystem auf die Herausforderungen der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung vorbereiten sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug der Bildungsminister René Haby die Zusammenlegung von sozial- und naturwissenschaftlichen Fächern zu Fächergruppen vor, die den Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I eine problemorientierte Einführung in den Unterricht der Experimentalwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) und der Sozialwissenschaften (Geschichte, Geographie, Sozialkunde) gestatten sollten. Der Versuch, nach dem Vorbild der angelsächsischen social studies einen integrierten geistes- und sozialwissenschaftlichen Lernbereich zu gestalten, scheiterte allerdings am Widerstand der Fachlehrer der Geschichte und der Geographie, die die Eigenständigkeit ihrer Fächer und den am catéchisme républicain orientierten staatsbürgerlichen Unterricht gegen die liberalen Reformer verteidigen wollten.
Das Regierungsbündnis aus Sozialisten und Kommunisten versprach bei seinem Amtsantritt im Jahr 1981, den juristischen Gleichheitsgrundsatz und die organisatorische Modernisierung der Sekundarschulbildung, die 1975 mit der Reform von René Haby eingeleitet worden waren, in der bildungspolitischen Praxis so zu gestalten, dass sie das angestrebte Ziel der Erhöhung der sozialen Mobilität und der Überwindung der sozialen Segregation tatsächlich zu leisten vermochte. Sie reagierten damit auf die Einsicht, dass die Schaffung einer einheitlichen Struktur in Gestalt des collège unique allein nicht zu einer Verbesserung der Bildungschancen geführt hatte. Sie orientierten sich deshalb am angelsächsischen Modell der positiven Diskriminierung und schufen ab 1981 in Gestalt der zones d’éducation prioritaires regionale Förderschwerpunkte für die Bildung in sozialen Problemzonen.
Die Einrichtung regionaler Förderschwerpunkte bildete einen Bestandteil der Politik der Dezentralisierung, die den regionalen Gebietskörperschaften (région, département) größere Entscheidungsbefugnisse bei der Gestaltung der Schulpolitik zuwies.
Gleichzeitig stärkten die Bildungspolitiker des Linksbündnisses die Autonomie der Schulen, die dazu angeregt wurden, im Rahmen der projets d’établissement ein eigenständiges Profil zu entwickeln und dieses gegenüber der Öffentlichkeit zu kommunizieren.
Um den Lehrkörper zu befähigen, die neuen Bildungsziele erfolgreich umsetzen und die gewachsenen Handlungsspielräume nutzen zu können, plädierten die Bildungspolitiker für eine Stärkung der didaktischen Ausbildung, die seit 1990/91 für alle Lehrerinnen und Lehrer allgemeinbildender Schulen an den Hochschulen für Lehrerbildung (Instituts Universitaires de Formation de Maîtres, I.U.F.M.) erfolgte. Die Einführung einer wissenschaftlichen Ausbildung der Grundschullehrerinnen und -lehrer und die Ausstattung der Lehrerbildungsinstitute mit erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Lehrstühlen führte zu einer Professionalisierung der pädagogischen Tätigkeit aller Kategorien von Lehrerinnen und Lehrern des allgemeinbildenden Schulwesens. Die Akademisierung der Ausbildung der Primarschullehrer schuf die neue Berufsbezeichnung (professeurs des écoles), die die alte Trennung zwischen den instituteurs der Primarschule und den professeurs der Sekundarschule aufhob.
Damit fand ein Wandel im Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer seinen Abschluss, der bereits in den 1950er Jahren begonnen hatte. An die Stelle der politischen Auseinandersetzung um die Werte, die dem republikanischen Gemeinwesen zu Grunde liegen sollten, trat in immer stärkerem Maße die Vermittlung von anwendungsorientiertem Wissen für eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Die grundlegende Veränderung, die sich seit den 1970er Jahren im Selbstverständnis der französischen Lehrerschaft vollzogen hatte, wurde seit den 1980er Jahren im Bedeutungsverlust des traditionellen sozialistischen und gewerkschaftlichen Engagements breiter Kreise der französischen Lehrerschaft deutlich.
Diese Veränderung im Bildungsverständnis wurde den Bildungspolitikern der linken Koalitionsregierung auch in Gestalt des Widerstandes deutlich vor Augen geführt, den die Verteidiger des privaten Schulwesens gegen das Vorhaben organisierten, die finanzielle und organisatorische Autonomie der privaten Schulen zu beschränken und sie stärker in das staatliche Schulsystem zu integrieren. Diejenigen Eltern, die 1984 die Wahlfreiheit der Schule erfolgreich gegen die Reform des sozialistischen Bildungsministers Alain Savary verteidigt hatten, schätzten an den privaten Schulen nicht zuletzt die Möglichkeit, denjenigen Kindern, die an den Bedingungen des staatlichen Schulwesens gescheitert waren, eine „zweite Chance“ einzuräumen.
Der Nachfolger Alain Savarys im Amt des Bildungsministers, Jean-Pierre Chèvenement, reagierte auf dieses neue Bildungsverständnis mit einer Stärkung der Wissensvermittlung gegenüber den pädagogischen Innovationen, die in Folge von 1968 Eingang in die Bildungspolitik gefunden und auch den Geschichtsunterricht verändert hatte. Im Unterschied zu den curricularen Reformen der 1950er und 1970er Jahre führten die Reformen der 1980er Jahre zu einer Stärkung des traditionellen Fächerkanons und der nationalen Perspektive auf die Geschichte.
Gleichzeitig gelang es Chèvenement mit der Einführung eines neuen Abiturs, das parallel zu einer Berufsausbildung erworben werden konnte (baccalauréat professionnel) und dem Versprechen, bis zum Jahr 2000 80 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur zu führen, dem Bildungswesen eine neue Perspektive und ein positives Image in der französischen Bevölkerung zu geben.
Für diesen Perspektivenwechsel stand nicht zuletzt auch die zunehmende Internationalisierung der schulischen Bildung. 1981 wurden die „internationalen Sektionen“ an den Grund- und Sekundarschulen eingeführt, in denen französische Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit europäischen Kommilitoninnen und Kommilitonen und unterrichtet von einem internationalen Lehrerkollegium eine bilinguale Ausbildung erhielten. Der Internationalisierung der schulischen Ausbildung der Elite stand allerdings die bereits erwähnte zunehmende Segregation in den zones d’éducation prioritaires gegenüber. Diese soziale und kulturelle Segregation geriet 1989 mit der sogenannten „Kopftuchaffäre“ in das Bewusstsein der französischen Öffentlichkeit. Die intensive Debatte, die in der Folgezeit über das Verhältnis von Religionsfreiheit und weltanschaulischer Neutralität der Schule geführt wurde, eröffnete schließlich mit der Entscheidung des französischen Staatsrates die Chance zu einem toleranteren Umgang mit religiösen Überzeugungen in der Schule.

Steffen Sammler



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