Habsburgs europäische Herrschaft

1910 – Schule am Ende des Kaiserreichs

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich in den meisten deutschen Staaten ein dreigliedriges Schulsystem mit Volksschule, mittlerer und höherer Schule herausgebildet. Die allgemeine Schulpflicht, seit langem schon gesetzlich festgeschrieben, war nun tatsächlich durchgesetzt und der Analphabetismus dadurch weitgehend beseitigt.
Der Erfüllung der Schulpflicht diente vor allem die acht Jahrgangsstufen umfassende Volksschule für Schülerinnen und Schüler vom 6. bis 14. Lebensjahr. In den Städten etablierten sich zunehmend mehrklassige Volksschulen, während auf dem Land noch die einklassige Schule dominierte. Über die Elementartechniken und religiöses Wissen hinaus vermittelte die Volksschule inzwischen auch Kenntnisse in Naturkunde, Geschichte und Erdkunde. Die gestiegene Bedeutung, die der Elementarbildung im Kaiserreich zukam, zeigte sich auch an der Verbesserung der Lehrerausbildung, der Anhebung der Lehrergehälter und der Verringerung der Klassengrößen. 1911 zählte eine Volksschulklasse im Durchschnitt nur noch 51 Kinder gegenüber 64 Schülerinnen und Schülern im Jahr 1886.
Die Mittelschulen, in Preußen 1908 einer umfassenden Neuordnung unterzogen, waren überwiegend sechsklassig. Auf drei Vorbereitungsklassen für die sechs- bis neunjährigen Kinder folgten sechs Mittelschulklassen für die Jahrgangsstufen zehn bis fünfzehn. Die Mittelschulen besaßen ein gegenüber den Volksschulen erweitertes Lehrprogramm, das auch eine oder zwei Fremdsprachen umfasste. Sie waren auf die Bildungsbedürfnisse des ‚Mittelstands’ zugeschnitten und dienten auch seiner Abgrenzung gegenüber dem einfachen Volk. In ländlichen Gegenden erfüllten sie darüber hinaus die Funktion einer ‚Zubringerschule’ für die höheren Lehranstalten in den Städten.
Die höheren Schulen waren neunklassig, besaßen aber in vielen Gegenden – wie die Mittelschulen – eigene Vorschulen, die unter Umgehung der unteren Volksschulklassen unmittelbar auf den Eintritt in die höhere Schule vorbereiteten. Auf drei Vorbereitungsklasen folgen neun Klassen für die Altersstufen neun bis achtzehn. Die höheren Schulen vermittelten ‚allgemeine Bildung’ in wissenschaftspropädeutischer Weise, jedoch, in Typen gegliedert, mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten: Hatte der Lehrplan des Gymnasiums, der traditionsreichsten Form der höheren Schule, seinen Mittelpunkt in den alten Sprachen, so betonte das Realgymnasium stärker die neueren Sprachen, aber auch die Mathematik und die Naturwissenschaften, während die Oberrealschule eindeutig mathematisch-naturwissenschaftlich orientiert war. Hinsichtlich der mit ihren Abschlüssen verbundenen Berechtigungen – vor allem des Zugangs zum Universitätsstudium und zu den höheren Laufbahnen im Staatsdienst waren die drei Typen der höheren Schule seit 1900 weitgehend gleich gestellt. Was das soziale Prestige und den Anteil an der Schülerschaft angeht, besaß das Gymnasium jedoch nach wie vor einen deutlichen Vorsprung. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs lag der Anteil der Gymnasiasten im höheren Schulwesen bei ca. 50 Prozent.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auch das höhere Mädchenschulwesen staatlicherseits neu geordnet, es behielt dabei jedoch einen vom höheren Knabenschulwesen abweichenden Aufbau. Die Grundform der höheren Mädchenschule bildete das einschließlich der Vorklassen zehn Schuljahre umfassende Lyzeum. Von ihm zweigten in der Mittelstufe sog. ‚Studienanstalten’ gymnasialen, realgymnasialen und oberrealen Typs ab, deren Kurs mit dem Abitur abschloss und die ihren Absolventinnen nun ebenfalls den Zugang zur Universität eröffneten. Außerdem hatte das Lyzeum ein höheres Lehrerinnenseminar als eigene Oberstufe. Insgesamt erlebte das Sekundarschulwesen nach der Jahrhundertwende eine starke Expansion als Folge von Veränderungen im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich. Nicht nur wegen des zu entrichtenden Schulgelds behielten die Mittelschulen und erst recht die höheren Schulen einen sozial selektiven Charakter. Gerade die höheren Schulen entwickelten sich jedoch für Kinder aus der Mittelschicht zum bevorzugten und erfolgreich genutzten Mittel des sozialen Aufstiegs.
Träger der Schulen waren überwiegend die Gemeinden, die Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens lag jedoch in den Händen der Einzelstaaten. Sie setzten die bildungspolitischen Rahmenbedingungen, gaben die Lehrinhalte vor und kontrollierten das Lehrpersonal durch Schulaufsichtsbehörden. Im Volksschulbereich besaßen die Kirchen nach wie vor starken Einfluss. So waren die Volksschulen in den meisten Staaten des Reiches nach Konfessionen getrennt und die Schulaufsicht wurde auf der unteren Ebene von den Ortsgeistlichen ausgeübt.
Um die Jahrhundertwende verstärkte sich auf allen Ebenen des Schulwesens die Kritik an Unterrichtsinhalten und –formen. Die später als Reformpädagogik bezeichneten Bestrebungen zielten auf eine grundlegende Umgestaltung von Schule und Unterricht im Sinne einer ganzheitlichen Bildung von Körper und Geist. Wichtiger als solche Ansätze erscheint jedoch die zunehmende Politisierung und Nationalisierung der Schulbildung im Kaiserreich. Die Schule wurde zum Ort, an dem der Kampf gegen die Arbeiterbewegung geführt wurde. In der Erziehung der Schüler zu obrigkeitstreuen Untertanen, immun gegen sozialdemokratische Ideen und einem militaristischen Nationalstaat verpflichtet, nahmen der Geschichts- und der Geographieunterricht eine zentrale Bedeutung ein. Hier wurde deutsche und namentlich preußische Geschichte immer stärker zur Vorgeschichte des Deutschen Reichs von 1871 verkürzt, in der Vermittlung deutscher Kultur und Leistung wurde das Nationale betont und immer aggressiver gegen den vermeintlichen „Erbfeind“ Frankreich gewendet. Hinzu trat die körperliche Ertüchtigung, die in den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs militaristische Züge annahm. Auf eine kurze Formel gebracht, bedeutete dies: „Das Abendland im Lehrplan, die Hohenzollern im Herzen, den Kriegsdienst im Handeln“ (Kraul, 120).
Insgesamt betrachtet können somit drei Merkmale als charakteristisch für das Bildungswesen im Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesehen werden: a) die Ausweitung und Modernisierung von schulischer Bildung, b) die Ausdifferenzierung von Bildungsanstalten und Unterrichtsangeboten und c) die Politisierung von Schule und Unterricht.

Susanne Grindel
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