" 'Europa-Armee': EWG

1955 – Restauration und Reform nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur griffen die beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches bei der Neugestaltung des Schulwesens auf Vorstellungen aus der Weimarer Republik zurück. Damit wurden auch die schulpolitischen Kontroversen der 1920er Jahre wiederbelebt. Hinzu kamen die Anforderungen der Besatzungsmächte an das Schulwesen. Ihre Vorstellungen trafen sich zunächst in der Forderung nach Demokratieerziehung und Chancengleichheit, sah man doch gerade im Versagen des Bildungswesens eine der Ursachen für Diktatur, Militarismus und Rassenideologie. Im Potsdamer Abkommen vom August 1945 hatten sich die Alliierten auf eine grundlegende Erneuerung des „Erziehungswesens“ verständigt.
In der Umsetzung ihrer Bildungsvorstellungen gingen die Militärregierungen jedoch unterschiedliche Wege. In der sowjetischen Besatzungszone wurde rasch mit einer „antifaschistisch-demokratischen“ Schulreform begonnen und mit dem „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schulen“ eine für alle gemeinsame achtjährige Grundschule eingeführt, an die sich eine vierjährige Oberschule bzw. eine dreijährige Berufsschule anschlossen. Private Schulen wurden verboten, kirchliche Schulen in eine Randzone abgedrängt. Das Schulwesen unterstand der zentralen Aufsicht des Staats. Das Ministerium für Volksbildung, von 1963 bis zum Ende der DDR unter der Leitung von Margot Honecker, sorgte dafür, dass die Schulen zunehmend in den Dienst der ideologischen und ökonomischen Umgestaltung der Gesellschaft sowie der Verwirklichung des sozialistischen Menschenbildes gestellt wurden.
Mit dem „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens“ von 1959 wurde die Schulzeit auf zehn Pflichtschuljahre ausgedehnt. An die Stelle der achtjährigen Grundschule trat die zehnjährige allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS) mit Unter-, Mittel- und Oberstufe. Im Anschluss an die 8. Klasse der Polytechnischen Oberschule führte die sogenannte Erweiterte Oberschule (EOS) in vier Jahren zur Hochschulreife. Neben der EOS gab es weitere Möglichkeiten, die Hochschulreife zu erwerben. Die Berufsausbildung mit Abitur (BmA) erlangte darunter die größte Bedeutung. Etwa ein Drittel der Abiturienten erwarb auf diesem Weg die Berechtigung zum Hochschulstudium, wobei er vor allem für den Zugang zu technischen Studienrichtungen genutzt wurde. Die Zulassung zur Erweiterten Oberschule hing von den schulischen Leistungen, dem Berufswunsch, aber auch von der politischen Zuverlässigkeit und dem politischen Engagement der Schüler und ihrer Eltern ab. Ein weiteres Zugangskriterium bildete die soziale Herkunft. So wurde über Quotierungen der Anteil von sogenannten „Arbeiter- und Bauernkindern“ an der Schülerschaft der Oberschulen beziehungsweise der Erweiterten Oberschule (EOS) systematisch erhöht. Zusammen mit finanziellen und pädagogischen Fördermaßnahmen trug dies zu einer rasch wachsenden Bildungsbeteiligung bei. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde jedoch der Anteil der Abiturienten dem Bedarf der Wirtschaft angepasst und von 18 Prozent auf ein bis zum Ende der DDR gleichbleibendes Niveau von 12 Prozent eines Jahrgangs zurückgeschraubt. Während die Abiturientenquote der 1950er und 1960er Jahre deutlich über der in der Bundesrepublik gelegen hatte, sank sie in der Folgezeit auf Grund der restriktiven Politik im Osten und der Bildungsexpansion im Westen unter diese ab. Um den Bedarf an einschlägigen Spezialisten zu decken, wurden ab 1965 innerhalb des einheitlichen Schulsystems Spezialschulen und Spezialklassen mit den Schwerpunkten Musik, Sport, Russisch oder Mathematik eingerichtet, die auf diesen Gebieten besonders leistungsfähige Schüler gezielt fördern sollten.
Der inhaltliche Schwerpunkt des Unterrichts lag im naturwissenschaftlich-technischen Bereich mit starken Elementen staatsbürgerlicher und körperlicher Erziehung. Über den aus theoretischen und praktischen Teilen bestehenden polytechnischen Unterricht sollten die Schüler auf den Übergang in die Arbeitswelt, die Produktion, vorbereitet werden. Die Bildungsziele und -inhalte waren nach sowjetischem Vorbild aus der kanonisierten Lehre des Marxismus-Leninismus abgeleitet. Dieser diente als Grundlage des gesamten Unterrichts. Gemeinsam mit der SED-Parteijugendorganisation, der Freien Deutschen Jugend (FDJ), betrieb die Schule die ideologische Einbindung der Schüler und engte die gedanklichen Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten immer weiter ein.
Die westlichen Alliierten sahen für ihre Gebiete ebenfalls ein Einheitsschulsystem mit einer zumindest sechsjährigen gemeinsamen Schulzeit vor. Es sollte an die Stelle des vertikal gegliederten Systems mit den als elitär und autoritär angesehenen höheren Schulen treten und den Schülern gleiche Bildungschancen eröffnen. Auch die beabsichtigte Schulgeld- und Lehrmittelfreiheit diente diesem Ziel. Gleichwohl setzten die Besatzungsmächte unterschiedliche Akzente in ihren Reformbestrebungen. So zielten die Amerikaner auf eine umfassende schulische und kulturelle Umerziehung zur Demokratie (Reeducation und Reorientation). In diesem Zusammenhang richteten sie mehrwöchige Reorientierungskurse zur Umerziehung der Volksschullehrer ein und Reeducation-Teams vermittelten jene demokratischen Unterrichtsformen, welche die Lehrer anwenden sollten. Die Briten waren dagegen zurückhaltender in ihren schulpolitischen Vorgaben und die französische Militärregierung setzte auf Demokratisierung durch die Vermittlung von kulturellen Werten im Unterricht.
Im Gegensatz zur sowjetischen Besatzungszone konnte in den Westzonen jedoch nur wenig von den Reformvorstellungen der Alliierten umgesetzt werden. Die Gründe hierfür lagen zum einen in den noch wenig ausgearbeiteten Reformkonzepten. Zum anderen konnten Bildungsreformen nicht ohne die Unterstützung und Mithilfe der deutschen Politiker und Institutionen in den Westzonen durchgeführt werden. Diese sahen jedoch die Ursachen des Versagens im Bildungswesen nicht in der autoritären und ideologischen Lenkung der Heranwachsenden durch das nationalsozialistische System, sondern gerade in der durch dieses System herbeigeführten Schwächung schulischer Autorität; die Hitlerjugend, so hieß es, habe den Einfluss von Schule und Lehrern untergraben. Konservative Bildungspolitiker in den westlichen Besatzungszonen plädierten daher für die Wiederherstellung des traditionellen Schulsystems einschließlich der Wiedereinführung der Bekenntnisschulen. Die Gymnasien galten in dieser Perspektive als Garanten für die Aufrechterhaltung der deutschen Bildungstradition, und die konfessionell gebundene Erziehung in katholischen oder evangelischen Schulen sollte die Schüler und Schülerinnen gegen radikale Ideologien immunisieren.
Das Grundgesetz der 1949 gegründeten Bundesrepublik übertrug schließlich den Bundesländern (wieder) die gesetzgeberische und administrative Verantwortung im Bereich von Bildung und Schule. Erst 1969 erhielt der Bund durch Verfassungsänderung Kompetenzen in der Rahmengesetzgebung. Die bereits 1948 eingerichtete „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder“ (Kultusministerkonferenz/KMK) sorgte jedoch dafür, dass der Partikularismus und die Heterogenität, die sich im Zuge der Föderalisierung entwickelten, eingedämmt wurden. Die Kultusministerkonferenz sollte Fragen von länderübergreifender Bedeutung (Schuljahresbeginn, Bezeichnungen von Schultypen) regeln und die Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse über die einzelnen Länder hinweg gewährleisten. Ihre Beschlüsse waren jedoch nicht bindend und mussten von den Ländern erst angenommen und ratifiziert werden.
Die (Re-)Föderalisierung entsprach den Vorgaben der Alliierten und schien angesichts der NS-Erfahrungen nur folgerichtig. Sie stärkte allerdings die Beharrungskräfte im Bildungswesen: Eine Verlängerung der Grundschule über vier Jahre hinaus unterblieb (mit Ausnahme von Berlin). Das 1955 in Düsseldorf abgeschlossene „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens“ schrieb schließlich das hergebrachte dreigliedrige Schulsystem mit Volksschule, Mittelschule und – nun einheitlich als Gymnasium bezeichneter – höherer Schule fest. Die Schulpflicht lag in einigen Ländern zunächst noch bei acht Jahren. Auch das „Hamburger Abkommen“, das zehn Jahre später an seine Stelle trat, begnügte sich mit einigen kosmetischen Veränderungen: So wurde die Volksschule nun allgemein als Grund- und Hauptschule gefasst und die Mittelschule in Realschule umbenannt.
Der Unterricht an den westdeutschen Schulen wurde, was Mittelschulen und Gymnasien betrifft, nach Geschlechtern getrennt erteilt und er war an allen Schulen zum Teil geschlechtsspezifisch ausgerichtet. Unterrichtsfächer wie Hauswirtschaft und Handarbeit bereiteten die Mädchen auf ihre gesellschaftliche Rolle als Hausfrau und Mutter vor und entsprachen der zeitgenössischen Familienpolitik. Anders als in der DDR, wo das Schulwesen gezielt für Arbeiterkinder geöffnet wurde, festigte das westdeutsche Schulsystem soziale Grenzen und geschlechtsspezifische Möglichkeiten. Von einem gleichberechtigten Zugang zu Bildungschancen konnte de facto keine Rede sein. Während sich die Bildungsinhalte an den Schulen in der DDR am Marxismus-Leninismus ausrichteten, rückte an den bundesrepublikanischen Schulen der 1950er Jahre die abendländisch-christliche Kultur in den Mittelpunkt. Werte wie Heimat, Familie, Staat und Kirche sollten Tradition und Sicherheit vermitteln, eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war nicht vorgesehen.
Die Schulpolitik der Nachkriegszeit knüpfte so in beiden Teilen Deutschlands in sehr unterschiedlicher Weise an das Erbe der Weimarer Republik an. Während in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR eine grundlegende Veränderung eingeleitet wurde, setzten sich in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik die Kräfte durch, die für die Wiederherstellung des traditionellen Schulsystems eintraten.
Susanne Grindel
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