"Das vereinte Europa: Wiege einer neuen westlichen Kultur?"

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Eine europäische Kultur?

All diese Teilleistungen des Wirtschaftssektors wirken sich gewiss auf alle anderen kulturellen Aspekte aus. Die kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern Westeuropas werden zunehmend enger. Vielfältige Faktoren tragen dazu bei:
- Die Entwicklung der Verkehrsmittel, die die Distanzen verkürzen. Der Bau des Mont-Blanc-Tunnels bietet dafür ein schönes Beispiel, bevor der Eurotunnel auch Realität wird;
- Die Verlängerung der Urlaubszeit und der bezahlte Urlaub;
- Filme, die oft als Koproduktionen realisiert werden;
- Die internationalen Ausstellungen, die von Hauptstadt zu Hauptstadt wandern und die Meisterwerke eines jeweiligen Landes zeigen. Die auf Initiative des Europarats organisierten Ausstellungen haben speziell das Ziel, die Gemeinsamkeiten des europäischen Kulturerbes hervorzuheben;
- Die Migrationsbewegungen der Arbeitskräfte von einem Land zum anderen. Man schätzt, dass im Jahr 1963 zwei Millionen Berufstätige eine Arbeitsstelle im europäischen Ausland gefunden haben.
- Der akademische Austausch, der durch alle Arten von staatlichen und privaten Stiftungen gefördert wird;
- Das Verlagswesen, das den Anteil der Übersetzungen ausländischer Literaturwerke signifikant erhöht hat;
- Der Handel, der durch ausländische Produkte gewisse Trends in der Kleidung, der Ernährung und der Unterhaltung verbreitet. So ist der Anteil ausländischer Waren am Umsatz des Pariser Kaufhauses Les Galeries Lafayette von 1 % in 1957 auf 8 % in 1961 gestiegen;
- Das Ansehen der materialistisch geprägten amerikanischen Kultur, die, wenn auch in unterschiedlichem Maße, eine nivellierende Wirkung auf alle Länder Europas ausübt.

So entsteht eine europäische Kultur, in der die Ländervielfalt allmählich verblassen wird.


III. Morgen Europa?

Die europäische Gesellschaft von morgen

Es ist noch zu früh, um zu erkennen, ob die heutige europäische Kultur spezifische Merkmale im Bereich der Literatur und der Künste entwickelt hat. Die existentialistischen Systeme, die sich in Deutschland (Heidegger, Jaspers) und in Frankreich (Sartre) gebildet haben, weisen eine Konvergenz von europäischer Tragweite auf. Es bleibt zu beweisen, dass sie einen positiven Beitrag zur westlichen Kultur leisten. Es lässt sich nicht einmal sagen, ob das Christentum als Grundbaustein unserer Kultur einen Rückgang verzeichnet oder fortschreitet: Auch wenn die Entchristianisierung gewisse, bislang gesellschaftlich geschützte Bereiche trifft und das Streben nach materiellem Wohlstand die Spiritualität verdrängen kann, so scheinen dennoch Eliten ein verschärftes Bewusstsein für die Bedeutung der Religion in der Wahrung der Grundfreiheiten und Menschenrechte und als Antwort auf die durch den rasanten Fortschritt der Erdwissenschaften und der Vernichtungsmittel geschürten Ängste zu entwickeln.

Übersetzung: Isabelle Quillévéré