Der Gemeinsame Markt, ein Erfolg für Europa und für Frankreich

Commentaire

In dieser Textpassage schildert der Autor Guillaume de Bertier den langen Weg zur Einheit, den die westeuropäischen Staaten seit dem Marschallplan (1948) zurückgelegt haben. Aus Sorge um ihre „Unabhängigkeit“ und ihre „Freiheit“ (S. 46) angesichts der doppelten Gefahr der sowjetischen Besetzung und des amerikanischen „Protektorats“ hätten die „freien Nationen des alten Kontinents“ keine andere Wahl gehabt als ihre Kräfte durch „eine Reihe von supranationalen Institutionen“, darunter auch die EWG, zu vereinen (S. 51). Durch den für „Europa“ (S. 47) (im Singular) – als „unabhängige Einheit verstanden (S. 45) – bestimmten Marshallplan hätten die „europäischen Nationen“ ein Bewusstsein für ihre geteilten Probleme, gemeinsamen Interessen und Verflechtungen nach zwei Weltkriegen und mitten im Kalten Krieg entwickelt. „Was sie miteinander verbinde“ seien für diese Nationen eher materielle und politische als kulturelle Belange. Das Europa des Gemeinsamen Markts wird folglich in diesem Schulbuch als ein konkretes, pragmatisches Europa, als ein Europa der Notwendigkeit dargestellt, das unter besonderen Umständen entstanden sei, zu einer Zeit, in der das Schicksal des alten Kontinents den Gang der Weltgeschichte mitbestimmt habe. Der Autor betont in einem quasi teleologischen Zugang, dass diese „Einheitsbestrebungen“ sich in die Geschichte des Abendlands logisch einfügen, ohne jedoch auf konkrete, wenngleich oft idealistische, frühere Einigungsangebote des alten Kontinents hinzuweisen.

Während der Historiker Fernand Braudel sich zur gleichen Zeit in seinem Schulbuch von 1963 (Verlag Belin) vor jeder übersteigerten Siegessicherheit hütet, macht de Bertier keinen Hehl aus seiner Begeisterung für die junge EWG. Er betont unter Verwendung eines schwülstigen, mit Superlativen gespickten Diskurses den außerordentlichen Charakter der – vor allem materiellen und wirtschaftlichen – Erfolge des Gemeinsamen Markts. Die „Fortschritte des Gemeinsamen Markts“ werden als so „durchschlagend und schnell“ bezeichnet (s. 51), dass selbst das stolze England dazu gezwungen worden sei, seine Abneigung gegenüber einem europäischen Binnenmarkt aufzugeben und einen Beitrittsantrag zu stellen. Auch in politischer Hinsicht kann von Erfolg gesprochen werden, da, so der Autor, die allgemeine „Harmonisierung“ auf gutem Wege sei (S. 50). Die EWG wusste trotz des strengen Gesetzes der Einstimmigkeit „die heikelsten Probleme erfolgreich anzugehen“ (S. 50). Anstatt die Schwierigkeiten der Sechs im Rahmen ihrer Treffen zu stigmatisieren und ihre Streitigkeiten, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft, zu erwähnen, zieht es de Bertier offensichtlich vor, die gemeisterten Herausforderungen und die gelungenen Schachzüge auf dem diplomatischen Parkett zu betonen. So sieht er der Zukunft mit Optimismus entgegen. Die bisherigen spektakulären Erfolge kommen sowohl dem alten Kontinent zugute, der eine wahre „Wiedergeburt“ auf internationaler Ebene erfährt – am Ende des Jahres 1965 übertreffen „seine Währungsreserven die der USA“ –, als auch den sechs Unterzeichnerstaaten, die sichtbare Fortschritte auf nationaler Ebene verzeichnen. Aus der Sicht des Autors vermag das neue vereinte Europa, weit davon entfernt die jeweiligen nationalen Ambitionen zu behindern, das gemeinsame Vorhaben mit nationalen Interessen mühelos zu verknüpfen, um die „Unabhängigkeit“ der Staaten und des Kontinents zu garantieren.

Das Interesse und das Vertrauen, die der katholische Historiker diesem werdenden Europa entgegenbringt, lassen sich deutlich an der beachtlichen Anzahl der historischen Bilder ablesen, die im Schulbuch angeboten werden, um diesen „Einigungsprozess“ zu veranschaulichen: Die Unterzeichnung des „Vertrags zur Gründung der EWG“ (S. 49), das NATO-Hauptquartier im Schloss Fontainebleau vor seiner Verlegung nach Brüssel (S. 50), Bilder der Hauptakteure der europäischen Einigung. Das „Europa in Bildern“, das sich getreu den übrigen Abbildungen des gesamten dritten Kapitels auf diese Weise abzeichnet, ist implizit ein französisches Europa. An der Spitze der „Wegbereiter der europäischen Einigung“ steht die symbolträchtige Figur Jean Monnets, der gleich auf beiden Fotos der relevanten Doppelseite abgebildet ist (S. 48-49): Er erscheint als ein genialer Berater des „französischen Ministers Robert Schuman“ (S. 48) oder gar als ein Visionär (S. 49). Robert Schuman, Paul-Henri Spaak, oder auch Charles de Gaulle, werden dagegen lediglich erwähnt oder allenfalls einmal abgebildet (S. 51).

Glaubt man de Bertier, der sich durch diese Seiten nicht nur als ein Europa-Befürworter, sondern ebenso auch als ein Nationalist erweist, so sind die Erfolge der jungen EWG, wie die stolzen Bekundungen des Autors bei der Schilderung ihrer Bilanz zeigen, vor allem französische Erfolge. Und auch wenn er in seinem Schulbuch die Bezeichnung „Vater Europas“ für Jean Monnet nicht verwendet und kein farbenprächtiges Europa zeichnet, wie die 2008 erschienenen Schulbücher, so zeugen seine Aussagen, mitten im Kalten Krieg, von der frühen Entstehung einer über Schulbücher vermittelten, europäischen Zukunftsvision, reich an positiven Repräsentationen des vereinten Europas und einem von der französischen Diplomatie beherrschten Pantheon von „Helden“ der Europäischen Einigung.

Maguelone Nouvel-Kirschleger
Übersetzung: Isabelle Quillévéré


Literatur

Bossuat, Gérard, Faire l’Europe sans défaire la France, soixante ans de politique d’unité européenne des gouvernements et des présidents de la République française, Bruxelles 2006.

Id., Les fondateurs de l’Europe unie, Paris 2001.

Gerbet, Pierre, La naissance du Marché Commun : 1957, Bruxelles 1987.

Warlouzet, Laurent, Quelle Europe économique pour la France? : La France et le Marché commun industriel, 1956-1969, Lille 2007