" 'Europa-Armee': EWG

Commentaire

Der vorliegende Band wurde zu einem Zeitpunkt herausgegeben, als die SED-Führung mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, die der Schaffung einer volkseigenen Großindustrie folgte, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Eintritt in „ein sozialistisches Zeitalter“ geschaffen sah und mit der Errichtung der Berliner Mauer (1961) eine geopolitische Grenze in Deutschland zwischen Ost und West entstanden ist (Schmid 1982: 335). Das zweiteilige Lehrbuch für die Klasse 10 wurde von mehreren Autoren unter der Leitung von Stefan Doernberg1 im Schulbuchverlag der DDR Volk und Wissen2 in Anlehnung an den neuen Lehrplan von 1966 erarbeitet. Ein Kennzeichen dieser Lehrplanrevision war, dass Lehrplan und Lehrbuch parallel entwickelt wurden, d.h. dass die auf der Basis der neuen Lehrpläne entwickelten Schulbücher etwa zur gleichen Zeit mit diesen erschienen (Schmid 1979: 58f; Mätzing 1999: 273).

Das Buch beginnt mit der Geschichte nach 1945 und schließt mit dem Jahr 1961 ab, also hier in einer geringen Abweichung vom Lehrplan.3 Im einleitenden Text wird die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus dem Muster des Klassenkampfes entsprechend als zwischen „den Kräften des Friedens“ und denen des Krieges interpretiert und zum Hauptthema der Weltpolitik erhoben (S. 10). Die Ausführungen über die Gründung der DDR und ihre Entwicklung bis 1961 stellen neben der internationalen Entwicklung zwischen den gegnerischen Blöcken die beiden wichtigsten Themenkomplexe des Buches dar, wobei die Entwicklung in der Bundesrepublik, dem sog. „Westdeutschland“, ebenfalls aufmerksam beobachtet wird.4

Die gewählte Passage bezieht sich auf die Verhandlungen über die Aufstellung einer „Europa-Armee“, die die Bundesrepublik in das westliche Militärsystem integrieren sollte, und geht auf das Projekt einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ zurück, das der französische Ministerpräsident René Pleven 1950 aufgestellt hatte.5 Der Autorentext befindet sich im Kapitel „Der Übergang zum Aufbau des Sozialismus – die nationale Aufgabe der DDR“ (S. 170-175). Diesem Ziel, das aus der Sicht der Autoren „eine Wende in der Geschichte Deutschlands und Europas“ herbeigeführt habe (S. 188), werden die einzelnen Etappen im Integrationsprozess Westeuropas von 1948 bis 1958, d.h. bis zum Inkrafttreten des EWG-Vertrages, gegenübergestellt. Eine Grafik auf S. 145 fasst die Schritte dieser Einigungsbewegung knapp zusammen, die dort mit einem eigenen Kapitel „Die Zuspitzung der ökonomischen und politischen Widersprüche im imperialistischen System (1950-1958)“ behandelt werden. Bezeichnend ist, dass in dieser Tabelle das besonders kritisch beäugte und letzten Endes 1954 gescheiterte „Pleven-Projekt“ neben den fortgeführten bzw. bestehenden Bündnissen aufgelistet wird.6

Die Bildung der „supranationalen Gemeinschaften“, der „die amerikanische Europa-Konzeption“ zugrunde gelegen habe (S. 146), sowie die sich vollziehende „Tendenz zur Internationalisierung“ gehen, so die Autoren, auf die schnelle Entwicklung der Produktivkräfte bzw. den Fortschritt nach dem Zweiten Weltkrieg als eine „objektive Grundlage“ zurück. Dennoch werden sie als „Ausdruck und Produkt des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der zweiten Etappe der allgemeinen Krise“ des Imperialismus ausgelegt (S. 144). Hauptziel dieser Zusammenschlüsse sollte die Errichtung einer wirtschaftlichen Basis für ein aggressives und gegen die Sowjetunion gerichtetes Militärpaktsystem sein. In diesen „neu aufgelebten Militarismus“ wird das „Pleven-Projekt“ einer Europa-Armee im Schulbuch eingeordnet.

Jene zum Problem erklärte Remilitarisierung „Westdeutschlands“ hatte allerdings, historisch betrachtet, tiefergehende Gründe: Der mit dem EVG-Vertrag zusammenhängende „Deutschlandvertrag“ sah hauptsächlich die Aufhebung des Besatzungsstatus und die volle nationale Souveränität der Bundesrepublik vor.7 Nicht zuletzt sollten gerade die Risiken der deutschen Wiederbewaffnung mit der Aufstellung einer europäischen „Gesamtarmee“ stark gemindert und die europäische Einigung so auf den Weg gebracht werden. Die Europa-Armee war neben dem Schuman-Plan als die wichtigste Stütze einer künftigen Union der europäischen Völker gedacht gewesen, die Westeuropa gegen einen befürchteten Angriff seitens der Sowjetunion schützen sollte.8

Die Schüler der Erweiterten Oberschule erfuhren aus der verkürzten Darstellung im Lehrbuch für die 10. Klasse wenig über den Entstehungszusammenhang dieser Etappe der europäischen Einigung. Das Thema wird einseitig fokussiert: Die westdeutsche Wirtschaft sei sowohl von den „Kohle- und Stahlbaronen“ als auch von den „verurteilten Kriegsverbrechern“ und ehemaligen faschistischen Offizieren des Zweiten Weltkrieges infiltriert, die die Remilitarisierung „Westdeutschlands“ anstrebten, um den Fortgang des Sozialismus zu blockieren und auf einen neuen Krieg hinzuwirken (S. 173). In der DDR galt gerade der von Konrad Adenauer in Bonn 1952 unterzeichnete „Deutschlandvertrag“ als „Generalkriegsvertrag“, der ausschließlich der Vorbereitung eines Atomkrieges gedient habe.9 Das Schulbuch hebt die personelle Kontinuität in der Wirtschaft, Verwaltung und Armee der Bundesrepublik und dem nationalsozialistischen Deutschland in diesem Kontext hervor, welche die These von der Faschisierung stützt und daher, schlussfolgernd, die neue Qualität der westeuropäischen Einigung ignoriert.10

Nicht nur der Integrationsprozess wird nicht in seinem historischen Kontext gewürdigt, auch werden im Schulbuch keine eigenen Europakonzepte aufgestellt. Die neueren Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Europapolitik der DDR sich auf die strikte Ablehnung der westeuropäischen Integrationsbestrebungen einschränkte. Jene „europäische Mission“ der DDR, in einer „nationalen und europäischen Verantwortung“ begründet, bestand in der Überzeugung, besser als die BRD geeignet zu sein, den Bedürfnissen der europäischen Völker zu entsprechen. In den 1960er Jahren lag ihr Hauptziel in einer „schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten“ hin zur Einigung auf sozialistischer Basis (Schmidt 1995: 152-157). Auch in der Forschung der 1960er Jahre in der DDR, die hauptsächlich den Aufbau des Sozialismus und die internationale kommunistische Bewegung fokussierte, bildeten europäische Themen keinen Schwerpunkt. Es gab nur wenige Arbeiten, die sich mit der Geschichte der kapitalistischen Länder Europas und der USA beschäftigten. Zu ihnen zählten z.B. eine Analyse der Hintergründe der deutsch-französischen Annäherung im Jahr 1938 und eine Arbeit über die Motive und Auswirkungen der aktuellen britischen Europapolitik (Schilfert/Einhorn 1970; Mätzing 1999).

Die widersprüchlichen, keineswegs nur erfolgreichen und von zunehmendem Militarismus begleiteten Tendenzen im westeuropäischen Integrationsprozess hätten, so die Schulbuchautoren, den Kalten Krieg geschürt. Die Fragen der europäischen Sicherheit interessierten Doernberg und sein Team durchaus, wurden jedoch aus der DDR-Perspektive betrachtet, d.h. mit dem Ziel, die sich weltweit vollziehenden „Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zum Sozialismus und Kommunismus“ aufzuzeigen und bei den Schülern ein „internationalistisch ausgerichtetes, sozialistisches Geschichtsbewusstsein“ zu fördern (Mätzing 1997: 141, 145). Die Fokussierung der DDR-Entstehungsgeschichte ist im Schulbuch in den Ablauf des sozialistischen Weltsystems eingeordnet, adäquat zu dem Postulat in dem ersten programmatischen Dokument der SED nach 1961, dem sog. „Nationalen Dokument“ (1962).

Mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker Anfang der 1970er Jahre gewann das Schlagwort ‚Internationalismus’ – kein falsch verstandenes Weltbürgertum, stattdessen Zusammenhalt des Proletariats quer durch die Welt – zunehmend an Bedeutung. Damit war die Geschichte der „sozialistischen deutschen Nation“ stärker in die Weltgeschichte eingebunden, aber eben nicht in einen europäischen Zusammenhang gedeutet, und wurde so auch in neuen Lehrwerken der frühen 1970er-Generation aufbereitet (S. 31f; Mätzing 1999: 97).

Ewa Anklam


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1 Doernberg, Stefan (1924-2010), Dr. phil, Prof. und langjähriger Direktor des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte (Berlin/Ost), Fernstudium der Geschichte an der Lomonossow-Universität in Moskau, seine Interessen betrafen die Fragen der europäischen Sicherheit und der internationalen Politik, Doernberg war seit 1970 Sekretär, Generalsekretär und Vizepräsident des DDR-Kommitees für europäische Sicherheit. Vgl. Nachruf von E. Crome, in: Welttrends. Zeitschrift für internationale Politik 73 (2010), 18, S. 109; Barth u.a. (1995), S. 139. An der Erarbeitung des Schulbuchs waren u.a. auch Lothar Below und Rudolf Graf beteiligt.

2 Volk und Wissen Verlag: 1945 gegründeter und bis Ende der DDR-Zeit einziger Verlag für pädagogische Literatur.

3 Laut Lehrplan werden in der Stoffeinheit 6 die Jahre von 1961 bis in die Gegenwart behandelt. Hingegen sollte der Zweite Weltkrieg bereits in der Klasse 9 thematisiert werden.

4 Der Lehrplan sieht für die Stoffeinheit 5 u.a. das Thema „Die Entwicklung Westdeutschlands zum Hauptkriegsherd in Europa“ vor.

5 Die französische Regierung präsentierte am 25. Oktober 1950 einen Plan, eine Europa-Armee aufzustellen, der u.a. deutsche Einheiten angehören sollten. Ein entsprechender Vertrag wurde am 27. Mai 1952 von den schon in der EGKS zusammengeschlossenen Staaten Frankreich, Italien, der Bundesrepublik und den Benelux-Staaten unterzeichnet. Der Plan scheiterte, als die französische Nationalversammlung im August 1954 die erforderliche Ratifizierung des EVG-Vertrages ablehnte. Vgl. Der Spiegel 8 (1951).

6 Anders die Schulbücher der Bundesrepublik, die diese Etappe im Integrationsprozess aus ihren tabellarischen Zusammenstellungen rauslassen.

7 Nach der Ablehnung des EVG-Vertrages durch Frankreich behielt die Bundesrepublik noch bis 1955 den Besatzungsstatus und wurde erst mit dem Inkrafttreten der „Pariser Verträge“ am 5. Mai 1955 souverän.

8 Vgl. den Zeitungsartikel: Erster Schritt zur Europa-Armee, in: Die Welt, 10. Mai 1952. Online: http://www.cvce.eu/obj/erster_schritt_zur_europa_armee_in_die_welt_10_mai_1952-de-f5289373-8582-4c8c-ae23-68b80ab6e003.html (letzter Zugriff: 12.2.14).

9 Ebd. Vgl. Schmidt (1995), S. 152ff.

10 Im Kontext der Pläne einer Europa-Armee wird auf die Entstehung militaristischer Organisationen in der Bundesrepublik, an der ehemalige Hitlergeneräle mitgewirkt hätten, verwiesen. Einstige faschistische Offiziere und Unteroffiziere sollten des Weiteren als Kaderreserve einer zu errichtenden Armee der Bundesrepublik angehören, S. 174. Vgl. dazu Mätzing (1997), S. 145.


Literatur:

Barth, Bernd-Rainer u.a. (Hg.), Wer war wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, aktualisierte Ausgabe Frankfurt/M. 1995.

Below, Lothar, Die Spaltung Deutschlands und der Weg zur Wiedervereinigung: ein dokumentarischer Abriss mit dem Nationalrat der nationalen Front der DDR, Dresden 1966.

Erster Schritt zur Europa-Armee, in: Die Welt, 10. Mai 1952. Online: http://www.cvce.eu/obj/erster_schritt_zur_europa_armee_in_die_welt_10_mai_1952-de-f5289373-8582-4c8c-ae23-68b80ab6e003.html (letzter Zugriff: 12.2.14).

Graf, Rudolf, 20 Jahre DDR, 20 Jahre deutsche Politik: Dokumente zur Politik der DDR im Kampf um Frieden und Sicherheit in Europa, Berlin (Ost) 1969.

Häder, Sonja; Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historisch-gesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997.

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Lehrplan für das Fach Geschichte, Klassen 8 bis 10 der Oberschule, Klasse 9 und 10 der Erweiterten Oberschule […]. Ministerium der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Volksbildung, Berlin (Ost) 1966.

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