"Die germanischen Reiche nach der Völkerwanderung"

Commentaire

Mit dem in der achten Auflage vorliegenden Band des Münchener Studienrates und Schulbuchautors Hans Winter liegt hier ein in den höheren Schulen des Königreichs Bayern viel verwendetes Geschichtslehrbuch vor. Laut Vorwort wurde das zweiteilige Werk im Layout nicht wesentlich verändert, es sei aber den „neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen“ gerade auf den Gebieten der älteren vaterländischen Geschichte“ entsprechend angeglichen worden, so nachdrücklich das Kapitel über die germanischen Ursprünge. Winters Buch erhebt keinen Anspruch auf „vermeintliche Vollständigkeit“, hebt stattdessen an vielen Stellen „eine innerliche Verbindung der deutschen und der bayerischen Geschichte“ hervor. Der Autor lässt den ersten Teil seiner „Vaterlandsgeschichte“ im Mittelalter in „der germanischen Vorzeit“ beginnen und in „der Neuen Zeit“ mit dem Westfälischen Frieden enden. Der Schwerpunkt liegt auf der Geschichte der Deutschen im Mittelalter. Das Lehrbuch ergänzen insg. 17 kunstgeschichtliche Abbildungen und sieben kolorierte Geschichtskarten.

Die Geschichtskarte „Die germanischen Reiche nach der Völkerwanderung“ – eine physische Karte mit politischen Grenzen – bildet den Zustand Europas zum Zeitpunkt des 5. Jh. n. Ch. ab. Die Völkerwanderung stellt den Ausgangspunkt dar: Räumlich eingeordnet sind auf der Abbildung „allenthalben germanische Kriegerstaaten“ (S. 21). Die Präsenz der germanischen Völker in fast ganz Europa ist durch farbige Markierungen leicht sichtbar gemacht. Die Karte ist unmittelbar in das Unterkapitel „Fortgang und Ende der Völkerwanderung“ eingebunden und nimmt darin zwei Schulbuchseiten ein. Der Verweis auf die Karte ist dem Themenblock „Die Völkerwanderung“ vorangestellt (S. 20). Um die Karte herum sind Kurzbeschreibungen der für die Geschichte der Völkerwanderung prominenten Völker gruppiert: Ostgoten, Bayern, Franken und Langobarden. Der Autor greift in dem nachfolgenden Abschnitt den Stamm der Franken, der als germanisch ausgelegt wird, als siegreich heraus und leitet damit in den nächsten größeren Abschnitt „Das Reich der Franken“, die erste frühmittelalterliche Großstaatbildung, über. Dem Schüler soll vermittelt werden, dass die „fränkische“, d.h. germanische Zeit sich in Europa schon vom 5. bis 8. Jahrhundert erstreckte.

Der raum-zeitliche Kontext ist aus der Karte nicht ohne Weiteres erschließbar, sie enthält keine Legende, kein Maßstab. Ihre ‚Maßstabsebene’ ist schulspezifisch bzw. national angelegt. Diese statische, situative Darstellung zeigt den Stand nach der „Zeit der wandernden Völker“, als in Europa anstelle des „römischen Weltreiches“, ausgeschlossen den Südosten Europas mit Byzanz, die Germanen getreten sind. Die exponierte Stellung der Karten in diesem Buch ist nicht zufällig. Sie sollen den Text mehr als nur visualisieren. Die Karte zeigt keine Bewegungen oder Veränderungen der Völkerwanderung. Sie zeigt die größtmögliche Verbreitung germanischer Völker auf dem europäischen Kontinent. Damit stellt Winter an diesem Beispiel faktisch den Standort des Germanischen, die Herrschaftsräume der Deutschen, dar.

Den Gegenstand des Geschichtsunterrichts am Beispiel der Völkerwanderung bzw. ‚der Franken’ bilden nicht etwa die universalen Bezüge, sondern die Bewahrung bzw. Konsolidierung des Deutschen Reiches angesichts zentrifugaler Kräfte (Pöschko 2004). Eine Universalmonarchie wird zurückgewiesen, die Bedeutung des frühmittelalterlichen Fränkischen Reichs hervorgehoben. Die Legitimation mit dem Letzteren sollte über die Idealisierung der Germanen die Sehnsucht des 19. Jahrhunderts nach einem deutschen Nationalstaat stillen, nicht so aber die Einigung Europas historisch rechtfertigen. Solche Einigungspläne waren im Kaiserreich insgesamt rar (Burkdorf 1999). Bei Winter, ähnlich wie in anderen Büchern der Spätzeit der Wilhelminischen Epoche, werden die Franken zu Erben des weströmischen Reiches stilisiert. Es kam darauf an, dieses Erbe mit den germanischen Stammeskulturen eng verbunden aufzuzeigen, und zwar in der Art, dass die Deutschen darin „gegenüber den viel zahlreicheren romanischen Untertanen eine Art herrschende Kriegerkaste“ wurden (S. 36). Den in den preußischen Richtlinien von 1901 verfügten Gesichtspunkten der Stoffbehandlung und damit der Forderung des Kaiser Wilhelms nach nationaler Erziehung im „christlich-germanischen Geiste“ ist in diesem bayerischen Schulbuch entsprochen worden. Anstelle des „heidnisch-kosmopolitischen Gehalts altklassicher Bildung“ trat angesichts der ‚großen Zeit’ im Jahre 1913 eine weitere „konventionelle Fabel nach dem Sinne der herrschenden Gewalten“ (Bergmann 1982).

Ewa Anklam

Literatur:

Bergmann, K., Imperialistische Tendenzen in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht ab 1890, in: Bergmann, K. u. a. (Hg.), Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500 bis 1980, Düsseldorf 1982, S. 190-217.

Burgdorf, W., „Chimäre Europa“. Antieuropäische Diskurse in Deutschland 1648-1999, Bochum 1999.

Kartenarbeit, in: Praxis Geschichte 5 (2008).

Körner, H.-M., Geschichtsunterricht im Königreich Bayern zwischen deutschen Nationalgedanken und bayerischen Staatsbewusstsein, in: Jeismann, K.-E. (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jh. Mobilisierung und Disziplinierung, Stuttgart 1989, S. 245-255.

Liedtke, M. (Hg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens, Bd. 2: Geschichte der Schule in Bayern. Von 1800 bis 1918, Bad Heilbrunn 1993.

Pöschko, H. H.,Die Freien und die Kühnen. Die Franken und Europa (Basisbeitrag), in: Praxis Geschichte 3 (2004) 4-9.