"Eine 'Gelehrtenrepublik' der Frauen?"

1995 – Schule im wiedervereinigten Deutschland

Das Ende der DDR und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bedeuteten für die neuen Bundesländer tiefgreifende bildungspolitische Veränderungen. Für die östlichen Bundesländer ging damit ein grundlegender organisatorischer und inhaltlicher Umbau des Schulwesens einher. Lehrer, insbesondere solche mit Leitungsfunktionen oder mit ideologieverdächtigen Unterrichtsfächern wie Staatsbürgerkunde oder Geschichte, wurden auf ihre Nähe zu Partei und Staatssicherheit überprüft. Eine Reihe von Lehrern wurde als belastet aus dem Schuldienst entlassen. Die Zuständigkeiten im Schulwesen übernahmen die Kultusministerien der fünf neu gebildeten Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachen und Thüringen. Sie traten 1990 der Kultusministerkonferenz bei. Neue Schulgesetze wurden verabschiedet, neue Lehrpläne erlassen, Lehrerbildung und Lehrerfortbildung neu konzipiert. Dies alles geschah unter Zeitdruck und war mit zahlreichen Anpassungsproblemen behaftet.
Nachdem der Einigungsvertrag von 1990 den östlichen Bundesländern bis zum Juni 1991 Zeit eingeräumt hatte, um die rechtlichen Voraussetzungen für das föderale Bildungswesen zu schaffen, übernahmen sie mit dem Schuljahr 1992/93 weitgehend das dreigliedrige Schulsystem, wobei Brandenburg eine sechsjährige Primarstufe einführte. Einige Länder schufen zudem für die Klassen fünf bis zehn der Sekundarstufe I eine die Haupt- und Realschule integrierende Schulform, die die Bezeichnung Sekundarschule (Sachsen-Anhalt), differenzierte Mittelschule (Sachsen) oder Regelschule (Thüringen) erhielt. Aus dem alten Fächerkanon der DDR wurden Wehrunterricht und Staatsbürgerkunde entfernt; neu eingeführt wurden dagegen Gesellschaftslehre und politische Bildung sowie Religion mit dem Fach Ethik oder Philosophie als Alternative. Die Dauer der Pflichtschulzeit wurde auf neun Jahre festgesetzt (bzw. auf zehn Jahre für Schüler in Berlin und Brandenburg). Für die Sekundarstufe II verständigten sich die neuen Bundesländer darauf, dass die allgemeine Hochschulreife nach zwölf Jahren erworben werden sollte.
In der DDR waren Lehrpläne, Lehrbücher und didaktische Handreichungen sowie die Lehrerausbildung einem geschlossenen pädagogisch-gesellschaftlichen Konzept unter zentraler Steuerung gefolgt. In der Bundesrepublik stellte sich die Lehrplanentwicklung dagegen als ein fortlaufender Prozess dar, in dessen Rahmen Unterrichtspraxis konsensuell weiterentwickelt wurde, implizit gesteuert durch gesellschaftliche Anforderungen sowie pädagogische und fachdidaktische Forschung. Die Lehrpläne der Bundesrepublik stellten lediglich Rahmenpläne dar, die einen breiten Spielraum in der Unterrichtsgestaltung boten, und der Einsatz von Lehrbüchern und ergänzenden Materialien im Unterricht war nicht von vorneherein festgelegt. Dies führte bei den ostdeutschen Lehrkräften anfangs zu einigen Irritationen und Frustrationen.
Wichtige bildungspolitische Reformanstöße gingen jedoch nicht von der Auflösung der DDR, sondern erst Mitte der 1990er Jahre von internationalen Vergleichstudien (TIMSS, Pisa I und II, IGLU) aus, bei denen die deutschen Schüler nur mittelmäßig abschnitten. In der Diskussion der Ergebnisse lebten die ideologisch geprägten Auseinandersetzungen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre um das gegliederte Schulsystem wieder auf. Die Debatte um „Gesamtschule“ oder „Gymnasium“, um innere versus äußere Differenzierung, kam erneut in Gang. Tatsächlich ist die frühe Aufteilung der Schüler auf unterschiedliche Schulformen nach der vierten Klasse im internationalen Vergleich ein Sonderfall. Nur Österreich nimmt ebenso frühe Differenzierungen in der Schullaufbahn der Schüler und Schülerinnen vor. Auch die Bildungsausgaben für den Primar- und Sekundarbereich sind gemessen am Bruttoinlandsprodukt deutlich geringer als in vergleichbaren Industrienationen. Ebenfalls in die Kritik geriet die Unterrichtsstruktur, die sich vornehmlich am Erwerb von fachlichen Wissensbeständen orientierte und weniger durch den Erwerb einer auf Kompetenzen basierenden Grundbildung gekennzeichnet war. Insgesamt zeigten die empirischen Bildungsvergleiche, dass das deutsche Schulwesen im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit, die Leistungsfähigkeit der einzelnen Schulen und die Lernkultur deutliche Defizite und einen Modernisierungsrückstand gegenüber vergleichbaren Ländern aufwies.

Susanne Grindel
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