"Churchill, Rede Zürich (19. September 1946)"

1975 – Schule und Bildungsreformen in der Bundesrepublik und in der DDR

Die ökonomische und soziale Entwicklung in beiden deutschen Staaten in den 1950er und 1960er Jahren blieb nicht ohne Einfluss auf das jeweilige Bildungswesen. In der Bundesrepublik zeigte sich immer deutlicher, wie sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung und die bildungspolitische Beharrung aneinander rieben. Die steigende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften im Zuge des Wirtschaftaufschwungs sowie das Bevölkerungswachstum führten zu verstärkter Bildungsbeteiligung (Bildungsexpansion). Der Anteil der Schüler an weiterführenden Schulen nahm dabei zu, ohne dass sich jedoch die soziale Durchlässigkeit des Schulsystems gravierend veränderte. Schließlich trugen aber die generationsbedingten Aufbrüche der 1960er Jahre und die Versuche, die Nachkriegsgesellschaft zu demokratisieren dazu bei, umfassende Reformen im Bildungswesen in Angriff zu nehmen.
Unter dem Schlagwort der „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht, 1964) wurde Mitte der 1960er Jahre der Modernisierungsrückstand des westdeutschen Bildungssystems kritisiert. Der 1965 gegründete „Deutsche Bildungsrat“ mit Vertretern aus Kultusbürokratie, Gesellschaft und Wissenschaft sollte im Auftrag von Bund und Ländern Reformempfehlungen für das Schulwesen erarbeiten. Sein 1970 vorgelegter „Strukturplan für das Bildungswesen“ sah eine Neuordnung in Anlehnung an internationale Standards vor. Anstelle des bisher vertikal gegliederten Schulsystems schlug der Bildungsrat eine horizontale Gliederung in Primarbereich (erstes bis viertes Schuljahr), Sekundarstufe I (fünftes bis zehntes Schuljahr) und Sekundarstufe II (zehntes bis dreizehntes Schuljahr) im Rahmen einer integrativen Schulform, der Gesamtschule, vor. Die Leitvorstellungen des Strukturplans gingen in den 1973 von der „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung“ (BLK) aufgestellten Bildungsgesamtplan ein. Insgesamt zielten beide Pläne auf den qualitativen und quantitativen Ausbau des Bildungswesens. Soziale Chancengleichheit und individuelle Begabungsförderung sollten durch eine äußerlich integrierte, im Innern jedoch nach Leistung und Neigung differenzierte und in ihren Lehrinhalten an der Wissenschaft orientierte Schule gesichert werden. Da der Deutsche Bildungsrat und die 1970 gegründete BLK lediglich Empfehlungen verabschieden konnten und der Widerstand konservativer Kreise in Politik, Gesellschaft und Bildung gegen weitergehende Reformen vor allem im Schulaufbau in den frühen 70er Jahren deutlich zunahm, wurden diese Pläne jedoch nur in Teilbereichen umgesetzt. So wurde allgemein eine Orientierungsstufe in der 5. und 6. Klasse eingerichtet, die die Schulwahlentscheidung auf einen späteren Zeitpunkt verschob und eine bessere Einschätzung der „Begabungen“ ermöglichen sollte. Auch die gymnasiale Oberstufe wurde im Sinne eines differenzierten Kursangebots mit entsprechenden Wahlmöglichkeiten und hochschulähnlichen Arbeitsformen reformiert. Die integrierte Gesamtschule wurde nach zehnjähriger Erprobung jedoch lediglich in den SPD-regierten Bundesländern und auch hier nur als vierte Schulform neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium eingeführt, wobei die Errichtung einer Gesamtschule vom Elternwillen abhängig gemacht wurde. Selbst diese Teilreformen blieben allerdings in der Folgezeit umstritten, wozu auch Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung beigetragen hatten. Die Mitte der 1960er Jahre angestrebte große Bildungsreform muss somit als gescheitert angesehen werden. Trotz deutlich wachsender Bildungsbeteiligung in den 1970er und 80er Jahren blieb im Übrigen auch eines ihrer Hauptziele unerreicht: Die Bildungschancen waren nach wie vor zwischen den sozialen Schichten sehr ungleich verteilt. Entsprechende Unterschiede zwischen den Geschlechtern konnten dagegen in dieser Zeit tatsächlich überwunden werden
In der DDR wurden die Ende der 1950er Jahre geschaffenen Strukturen durch das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ vom 25.2.1965 bekräftigt. Mit dem Bildungsgesetz von 1965 wurden erstmals alle Teile und Aspekte des Bildungssystems zusammenfassend geregelt. Es unterstrich den ideologisch-politischen Erziehungsauftrag der Schule und formulierte als Bildungsziel die sozialistische Persönlichkeit. Der Heranbildung klassenbewusster, loyaler, sozialistischer Staatsbürger diente nicht zuletzt der 1978 eingeführte Wehrunterricht. Er zeigte, wie sehr neben der Ideologisierung auch die Militarisierung die schulische Praxis in der DDR prägte. Diese Praxis wurde zentral gesteuert durch das Ministerium für Volksbildung, das die Lehrpläne ausarbeitete und die Schulbücher überprüfte. Gestützt auf die Arbeiten der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, einem Staatsinstitut, das eng an die politischen Vorgaben gebunden war, sollten die theoretischen Grundlagen der sozialistischen Pädagogik in der Unterrichtspraxis umgesetzt werden. Ein für alle Schulen verbindliches Curriculum mit einer einheitlichen Stundentafel sowie ein für jedes Fach verbindlich lizensiertes Lehrbuch mit didaktischen Handreichungen strukturierten den Unterricht. Das in sich geschlossene gesellschaftlich-pädagogische Konzept war von der Vorstellung getragen, dass auf diese Weise ganze Schülerjahrgänge zeitgleich eine gemeinsame sozialistische Bildung erfahren könnten und dadurch auch der Zusammenhalt zwischen den Generationen gefestigt und der Aufbau einer einheitlichen sozialistischen Gesellschaft gefördert würde. Die zentrale Lenkung des Schulsystems durch das Ministerium bis in die Schulen hinein und die Berichtspflicht der Unterinstanzen an das Ministerium halfen bei der Durchsetzung dieser politisch-ideologischen Ziele.
In institutioneller Hinsicht unterblieben größere Neuerungen. Der Übergang auf die Erweiterte Oberschule erfolgte ab 1982 erst nach der 10. Klasse, so dass die EOS auf zwei Klassenstufen reduziert wurde. Wer auf die EOS wechseln wollte, musste neben Russisch eine zweite Fremdsprache gelernt haben. Etwa drei bis zehn Prozent eines Jahrgangs erhielten die Möglichkeit, ihre Schullaufbahn an der Erweiterten Oberschule fortzusetzen. Maßgeblich blieben neben den Leistungen die bereits genannten Kriterien, die sich jedoch – nach dem durch das Bildungswesen geförderten Elitewechsel der 50er Jahre – unter den veränderten bildungspolitischen Rahmenbedingungen der 1970er und 80er Jahre im Sinne einer neuerlichen sozialen Schließung auswirkten.
Inhaltlich blieb der Unterricht an der Polytechnischen Oberschule (POS) mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse weiter auf den mathematischen und naturwissenschaftlich-technischen Bereich konzentriert. 1988 machte dieser Bereich 29 Prozent des Gesamtunterrichts aus, 22,9 Prozent befassten sich mit Deutscher Sprache und Literatur, der Anteil der polytechnischen Ausbildung betrug 11 Prozent. Durch den „Unterrichtstag in der Produktion“ und berufsbezogene Unterrichtsfächer wie Technisches Zeichnen sollten Schule und Arbeitswelt miteinander verbunden werden.
Bildung und Lernen besaßen einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft der DDR. Sie galten als zentral für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und sollten die Entwicklung der Heranwachsenden zu sozialistischen Persönlichkeiten garantieren. Unter der Kontrolle von Staat und Sozialistischer Einheitspartei wurden die bereits während der sowjetischen Besatzungszeit geschaffenen Einrichtungen ausgebaut.

Susanne Grindel
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