Einheit und Vielfalt der Religionen im Europa des 16. Jahrhunderts

2007 – Das französische Bildungssystem im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts

Die französische Bildungspolitik unternahm im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine Reihe von Reformen, um das Bildungssystem an die Anforderungen eines einheitlichen europäischen Bildungssystems und den internationalen Wettbewerb anzupassen, die 1998 in Bologna und 2000 in Lissabon von den europäischen Regierungen definiert wurden.
Dazu verfolgte sie die Politik der Dezentralisierung und Europäisierung des französischen Bildungssystems konsequent weiter und förderte die Konkurrenz zwischen den staatlichen und den privaten Schulen und den Wettbewerb der einzelnen collège und lycée innerhalb des staatlichen Bildungssektors.
Die strukturellen und inhaltlichen Reformen, die 2005 in einem umfassenden Reformprojekt des Bildungsministers François Fillon mündeten (loi d’orientation et de programme pour l’avenir de l‘école), riefen allerdings umfangreiche Proteste auf Seiten der Schüler und der Lehrerschaft hervor und konnten, nicht zuletzt auf Grund von finanziellen Restriktionen, nicht in der gewünschten Weise umgesetzt werden.
Die 1998 mit dem Bologna Prozess eingeleitete Harmonisierung der europäischen Hochschulbildung führte 2005 zu einer Reform der Lehrerausbildung, die die Autonomie der Lehrerbildungsinstitute (IUFM) beendete und ihre schrittweise Integration in die zu bildenden universitären cluster (pôles universitaires) festschrieb. Dadurch verringerte sich das Gewicht der pädagogischen Qualifikation, die im Zentrum der Ausbildung an den IUFM gestanden hatte, gegenüber der fachlichen Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer.
Im internationalen Wettbewerb verteidigte die französische Bildungspolitik die Werte des nationalen Bildungssystems und verstärkte gleichzeitig die Bemühungen um die Verbesserung der sprachlichen und kulturellen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler.
In der Auseinandersetzung mit der kulturellen Globalisierung unterstrich der französische Bildungsminister François Fillon im Jahr 2004 noch einmal die Autorität des laizistischen französischen Bildungssystems gegenüber den Versuchen seiner Herausforderung durch einzelne Mitglieder muslimischer Gemeinschaften.
Gleichzeitig legten die Lehrplanreformen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts einen Schwerpunkt auf die Vermittlung eines themenorientierten, kulturvergleichenden, globalgeschichtlichen Unterrichts, der die nationalen oder eurozentristischen Grenzen überwinden sollte. Diesen Bemühungen um eine kulturellen Öffnung des Unterrichts standen allerdings Versuche der französischen Politik entgegen, die historische und staatsbürgerliche Bildung durch direkte Interventionen, wie im Gesetz von 2005 über die zivilisatorischen Leistungen des französischen Kolonialregimes für die einheimische Bevölkerung, zu beeinflussen.

Der Rückblick auf die französische Bildungspolitik des letzten Jahrhunderts macht schließlich deutlich, dass es im Verlauf des 20. Jahrhunderts gelang, auf der juristischen und organisatorischen Ebene das Versprechen der Gleichheit der schulischen Bildung für alle Schülerinnen und Schüler von der Vorschule bis zum Abschluss der Sekundarstufe I zu verwirklichen.
Die formelle Gleichstellung führte in den Jahrzehnten nach der Einführung der einheitlichen Sekundarstufe I im Jahr 1975 zu einer flächendeckenden Anhebung des formalen Bildungsniveaus bis zum Abitur, von dem auch die Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Schichten profitieren konnten.
Die Erfolge bei der Demokratisierung der Sekundarschule werden allerdings durch eine Vielzahl von neuen Formen der sozialen Differenzierung relativiert. Diese zeigen sich im zunehmenden Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulen eines Schulbezirks, in der sozialen Hierarchie, die die unterschiedlichen Wertigkeiten des Abiturs S (mathematisch-naturwissenschaftliches Profil), L (geisteswissenschaftliches Profil) und ES (wirtschafts- uns sozialwissenschaftliches Profil) bestimmt, und nicht zuletzt am geringen Anteil von Arbeiterkindern unter den Schülerinnen und Schülern der Vorbereitungsklassen auf die Eingangsprüfung für die privaten und staatlichen Elitehochschulen des Landes, die Grandes Ecoles.
Die Harmonisierung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Versprechen einer qualifizierten Bildung für alle und einer den Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechenden Leistungsdifferenzierung bleibt folglich auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine Herausforderung für das französische Bildungssystem.

Steffen Sammler


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