"Die Überlegenheit der Franken"

Kommentar

Eine Antwort auf die technische und wissenschaftliche Überlegenheit des westlichen Europas waren verordnete Reformen „von oben“, wie sie der autoritäre, aber modernisierungsorientierte ägyptische Herrscher Mohammed Ali (1806-1846) beabsichtigte, als er eine Studienkommission nach Paris schickte. Unter der Leitung von Rifa'a al-Tahtawi (1801-1873) besuchte eine Gruppe von Studenten die Stadt, um sich über den westlichen Stand von Wissenschaft und Technik zu informieren. Der Reisebericht erschien erstmals 1834 in arabischer Sprache und in Versform unter dem Titel „Ein Muslim entdeckt Europa. Die Reise eines Ägypters im 19. Jahrhundert nach Paris.“

Aus al-Tahtawis positiven, aber nicht unkritischen Blick auf die europäische Gesellschaft spricht muslimisches Selbstbewusstsein und Offenheit gegenüber westlicher Kultur. Besonders die „Franken“ oder Franzosen gelten al-Tahtawi als wissenschaftlich besonders fortschrittlich in der westlichen, europäischen Welt. Er sieht europäische Werte durchaus als Vorbild für die Modernisierung seines eigenen Landes an und gilt als Vordenker der arabischen Aufklärung (arabisch: Al-Nahda), die im späten 19. Jahrhundert das kulturelle und intellektuelle Leben Ägyptens reformierte. Letztlich blieb es aber bei einer eingeschränkten Übernahme europäischer Vorbilder, der sogenannten „halben Moderne“. Während wissenschaftlich-technische Errungenschaften begrüßt wurden, scheiterte die Übernahme säkularer Ideen wie die der Aufklärung am Widerstand konservativer Rechtsgelehrten und Theologen.

Das Schulbuch beansprucht eine multiperspektivische Darstellung, und es löst diesen Anspruch gerade mit der hier ausgewählten Quelle und ihrem Blick auf Europa von außen ein. Auch die Kapitelüberschrift „Die islamische Welt und die Moderne“ und die erste Zwischenüberschrift unterstreichen die islamische Perspektive. Unter der Überschrift „Der Islam und der Westen“, in dem auch die Quelle abgedruckt ist, greift das Schulbuch dann Trennendes und Gemeinsames im Verhältnis von islamischer und christlicher Welt auf.

Susanne Grindel

Literatur:

Bernard, Lewis, Europa und der Islam, in: Michalski, Krzysztof (Hg), Europa und die Folgen. Castelgandolfo-Gespräche 1987, Stuttgart 1988, S. 256-283.

Rifa'a Al-Tahtawi: A visit to Paris (1826-31), transl. by Daniel Newman, London 2004.

Stowasser, Karl (Hg), Ein Muslim entdeckt Europa: Bericht über seinen Aufenthalt in Paris 1826-1831, München 1989.

Rahmenplan Geschichte. Bildungsplan Gymnasiale Oberstufe. Freie und Hansestadt Hamburg Behörde für Bildung und Sport, Hamburg 2004.