Die Welt von 1848 und 1948

Kommentar

Ganz im Geiste der Annales-Schule zieht der Autor Charles Morazé eine auf „Beobachtungen“ gestützte Bilanz. Diese führt ihn dazu, eine Problematik zu formulieren, die er im Laufe des Schulbuchs behandeln will. Das Schulbuch wird zum Träger von Ausführungen, deren Rahmen der Autor gleich auf den ersten Seiten aufstellt: Wie konnte Europa, das im 19. Jahrhundert so mächtig gewesen war, in der Mitte des 20. Jahrhunderts seine Vormachtstellung in der Welt zu Gunsten der „neuen“ Länder verlieren?

Zunächst unternimmt der Autor im ersten, dem „kapitalistischen Aufbau Europas“ gewidmeten Teil, einen Vergleich zwischen der Welt seiner Zeit in 1948 und der Welt von 1848. De facto steht Europa im Zentrum seiner Reflexion über die Bedeutung Europas in der Welt in beiden Jahrhunderten. Von der Lage im Jahre 1948 ausgehend, präsentiert der Autor Europa – genauer gesagt Kontinentaleuropa – als gespalten und geschwächt, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht, in einer Welt (die hier mit der Nordhalbkugel identifiziert wird), die von der Ost-West-Konfrontation zweier Blöcke beherrscht ist. Auf der ersten Karte (obere Hälfte der zweiten Seite) erscheint Europa, in weißer Farbe dargestellt, trotz seiner zentralen Lage als ein zerteilter Kontinent zwischen zwei quasi homogenen, schwarzen Massen, die eine zwei bis dreimal so große Fläche einnehmen. Das von den „neuen Welten“ beherrschte Europa hat seine Vormachtstellung verloren, es spielt keine führende Rolle auf internationaler Ebene mehr und sein Schicksal hängt zunehmend von der übrigen Welt ab. Bemerkenswerterweise schaut England, vom „alten, erschöpften Europa“ getrennt, nach Amerika, während Spanien einen marginalen Platz einnimmt. Der Autor geht dann auf die Lage von 1848 zurück. Auf der zweiten Karte (untere Hälfte der zweiten Seite) scheint Kontinentaleuropa, diesmal in schwarz dargestellt, nicht so zerteilt zu sein. Es ist das Zentrum der Welt, die Großmacht, die andere, größere Erdteile, wie Russland oder Amerika, diesmal in weiß, beherrscht. Der Autor verbindet die Karte der Länder, die von den revolutionären, seiner Meinung nach „sozialistisch geprägten“ Ereignissen von 1848 erschüttert wurden, mit der Karte des geschwächten Europas von 1948: „Ist es nicht erstaunlich festzustellen, dass die Karte der im Jahre 1848 erschütterten Länder das Negativ zur Karte der Großen Drei im Jahre 1948 bildet?“

Diese Seiten spiegeln die Sehnsucht des Autors nach einem starken, vereinten, der Welt trotzenden Europa wider. Der Autor beschreibt mit Bedauern einen Niedergang, der seiner Meinung nach in Folge von durch Nationalismus geschürten inneren Spaltungen und imperialistischen Rivalitäten schon in den 1880er Jahren begonnen hat. Er erklärt, dass im Zuge der Kriege und der Wirtschaftskrisen das „Auseinanderfallen“ Europas sich bis zur „Erschöpfung“ im 20. Jahrhundert fortgesetzt hat. Mit Nachdruck auf den Ernst der Lage hinweisend, personifiziert der Autor Europa und benutzt dabei das semantische Feld des Leidens: „Europa ist „zerrissen“, „geschwächt“, „erschöpft“. Mehr als nur ein Kontinent geht eine ganze Kultur zu Gunsten der „neuen Welten“ unter. Der Autor sieht mit Furcht „dem Aufkommen der neuen, das alte, erschöpfte Europa dominierenden Welten“ entgegen.

Maguelone Nouvel-Kirschleger
Übersetzung: Isabelle Quillévéré

Literatur:

Becker, Josef; Knipping, Franz (Hg.), Power in Europe? Great Britain, France, Italy, and Germany in a postwar world, 1945-1950, Berlin 1986.

Demangeon, Albert, Le Déclin de l'Europe, Paris 1920.

Postel-Vinay, Karoline, L'Occident et sa bonne parole: nos représentations du monde, de l'Europe coloniale à l'Amérique hégémonique, Paris 2005.

Ryan, David, The United States and Europe in the twentieth century, London 2003.