Cuius regio, eius religio: Das Mosaik der Religionen in Europa

Kommentar

Das 2. Kapitel des Schulbuchs bildet den ersten Grundpfeiler der curricularen Vorgaben: West- und Mitteleuropa, sowie Frankreich und das Haus Österreich, sollen gemäß dem Curriculum behandelt werden. Die Autoren folgen dieser Einteilung in drei Abschnitten und beginnen mit einem Überblick über Europa um 1600, dessen politische und konfessionelle Landschaft anhand des berühmten Satzes „cuius regio, eius religio“ und der einleitenden Karte zusammenfassend dargestellt wird.

Die Legende ist absichtlich sehr knapp gehalten, die Karte selbst hebt dafür die Namen der Staaten hervor. Aus Treue zu Gott und Loyalität gegenüber seinem Vertreter auf Erden – dem König – habe sich die Religion „auf nationaler Ebene“ etabliert und zur „Verherrlichung der nationalen Gefühle“ beigetragen. Im vorangegangenen Kapitel sind die Gründe für diese Entwicklung erläutert worden: Seit dem 13. Jahrhundert hätten sich in der Christenheit, d.h. in allen christlichen Ländern, gesehen als „ein großes Ganzes“ (S. 2), allmählich „die europäischen Nationen“ gebildet. Die langsame Entwicklung der Sprachen, ihre Verwendung in der Literatur und späterhin in der Verwaltung, die Fortschritte des zur Vermehrung der Kontakte führenden Fernhandels, die Kreuzzüge und die europäischen Kriege, schließlich die Bestrebungen der Herrscher, ihre Territorien zu einem Königreich zu vereinen, seien alle Faktoren, die zu ersten Ansätzen des „Patriotismus“ beigetragen hätten (S. 5). Dieselbe Entwicklung habe sich auf der Ebene der Religion vollzogen: Reformatoren wünschten die Übersetzung der Heiligen Schrift in die jeweiligen nationalen Sprachen, sowie die Abhaltung der Gottesdienste in den Landessprachen. Sie stellten dadurch die lateinische Sprache, und somit auch den universellen Charakter der Kirche in Frage. Der Wille, zu reineren Formen des Christentums zurückzukehren, die Entwicklung des religiösen Individualismus, der Kampf gegen „die schlechten Sitten und die Missbräuche innerhalb der Christenheit“ hätten am Anfang des 16. Jahrhunderts „die großen Reformatoren“ dazu bewogen, die katholischen Institutionen in Frage zu stellen.

Die Kombination dieser beiden Phänomene erkläre, dass die „getrennten Kirchen“ so schnell „einen nationalen Charakter“ angenommen hätten: So sei das „nahtlose Kleid“ der Christenheit zerrissen worden (S. 6). Wie die Karte auf Seite 4 veranschaulicht, breitete sich ausgehend von den großen Zentren (Wittenberg, Genf, London) und dank des Werks der großen Reformatoren (Luther, Calvin, Zwingli, Heinrich VIII., John Knox) die protestantische Reformation in konzentrischen Kreisen über den ganzen europäischen Kontinent aus, von Frankreich und Norditalien bis nach Schottland, Finnland und Ungarn; allein Irland auf der einen Seite, vor allem aber die südlichen Länder, Spanien, Süditalien und das Osmanische Reich, auf der anderen Seite blieben außerhalb ihrer Einflusssphäre.

Die einleitende Karte des 2. Kapitels bietet dementsprechend eine geographische, politische und religiöse Bilanz der protestantischen Reformation und der katholischen Reform am Anfang des 17. Jahrhunderts. Die protestantischen Staaten liegen im Norden Europas. England hat sich „nach jahrhundertelangen engen Beziehungen zu Rom“ endgültig dem Anglikanismus zugewandt; diese religiöse Singularität begleitet eine neue Politik der Rivalität mit den katholischen Mächten, insbesondere des „erbitterten Kampfes gegen Spanien“ um die Teilung der Reichtümer der Neuen Welt. Seine wachsende Macht und der Einsatz seiner Herrscher in der Reformation machen England zur „Führungs- und Schutzmacht im protestantischen Lager“ (S. 15), und führen es auf einen „Sonderweg in Europa“. Im Zuge der Reformation haben sich die protestantischen Provinzen der nördlichen Niederlande militärisch verbündet, politisch organisiert, in Gesellschaft und Handel bereichert: Die Vereinigten Provinzen sind „eine Großmacht geworden“. Dänemark herrscht über Holstein, Norwegen und den Süden Schwedens. Das Königreich Schweden, das Finnland annektiert hat, expandiert. Die katholischen Staaten liegen in Süd- und Osteuropa. Sie sind mit dem Haus der Habsburger verbunden, die als Protektoren des Papstes und Verfechter des Katholizismus auftreten. Der Erbe der spanischen Linie der Habsburger, Philipp III., ist Europas erster Herrscher und das Oberhaupt eines Weltreichs: Er herrscht über die vereinten Länder Spanien und Portugal, und besitzt auch die Macht in den Niederlanden, in Burgund, in der Provinz Mailand und in Süditalien. In Nordosteuropa bildet Polen ein „Bollwerk der römisch-katholischen Kirche gegen den Protestantismus und die Orthodoxie der Nachbarländer“.

Neben diesen beiden Lagern, diesen klar identifizierten „zwei Hälften der Christenheit“, zeichnet sich im Zentrum Europas eine dritte Kategorie ab, die im Autorentext des Kapitels als „andere europäische Staaten“ angeführt wird. Es sind die in Protestantismus und Katholizismus geteilten Länder: Deutschland, ein Mosaik von unzähligen Fürstentümern, im Norden protestantisch, im Süden katholisch, die alle seit mehreren Jahrzehnten unter der eher vage umrissenen Autorität des katholischen Kaisers, des Mitglieds des Hauses der Habsburger, bestehen. Die Schweiz ist geteilt, aber diese Teilung hat sich auf friedliche Weise vollzogen: Sie „ist das erste Beispiel für ein Land, das den nationalen Patriotismus über die religiösen Konflikte gestellt hat“ (S. 17). Frankreich kann noch hinzugezählt werden, das die Autoren im weiteren Verlauf des Kapitels einzeln behandeln: Ab 1560 von den Religionskriegen erschüttert, gelang es Frankreich unter Heinrich IV. eine Lösung für ein friedliches Zusammenleben von Katholiken und Protestanten zu finden.
Auf der im Vergleich zum Text schematischeren Karte werden zwei europäische Staaten nicht dargestellt, die zu keinem der beiden vorhin erwähnten Lager gehören: Das orthodoxe Russland, dessen Zar Iwan der Schreckliche sich selbst jedoch als „Erbe der römischen und byzantinischen Kaiser“ betrachtet (S. 17); und die muslimische Türkei, deren Macht seit dem Ende des 16. Jahrhunderts schwindet und den Angriffen der katholischen Länder Österreich, Polen und Spanien ausgesetzt ist. Die Karte macht hier bezeichnenderweise eine Ausnahme, indem sie nicht den Namen des Landes, sondern des Volkes verwendet, die „Türken“, die über Ungarn und Südosteuropa herrschen, aber implizit als Eindringlinge dargestellt werden.
Jenseits der politischen und religiösen Spaltungen präsentieren die Autoren letztlich einen von zahlreichen Interaktionen geprägten, vereinten europäischen Raum: Vom Atlantik bis Sibirien, vom Baltikum bis zum Mittelmeer bildet Europa eine Einheit.

Pierre-Yves Kirschleger
Übersetzung: Isabelle Quillévéré

Literatur

Christin, Olivier, La paix de religion : l’autonomisation de la raison politique au XVIe siècle, Paris 1997.
Chaline, Olivier, La reconquête catholique de l’Europe centrale : XVIe – XVIIIe siècle, Paris 1998.
Cottret, Bernard, Histoire de la Réforme protestante, Paris 2000.