"Das vereinte Europa: Wiege einer neuen westlichen Kultur?"

Kommentar

In dieser Textpassage, die das dritte Kapitel abschließt, bietet de Guillaume Bertier eine Definition der „europäischen Kultur“, die er zu seiner Zeit, Mitte der 1960er Jahre, als einen Teil der „westlichen Kultur“ ansieht, dessen Merkmale und Werte sie teile: politische und wirtschaftliche Modernität, Liberalismus und Kapitalismus und vor allem Christentum. Seiner Ansicht nach bildet allein das Christentum das entscheidende Merkmal der westlichen Kultur in der Braudelschen „longue durée“ und sichert deren Kontinuität. Das Christentum sei das einheitsstiftende und zugleich entscheidende Element der westlichen Kultur, mit dem sich Europa von anderen religiösen und politischen Kulturen, wie dem Islam und dem Kommunismus, unterscheide. In diesem Zusammenhang hebt der Autor die Rolle der „römisch-katholischen“ Kirche für den Aufbau eines kohärenten abendländischen Raums hervor: Diese „verkörpere“ die Beständigkeit und die Einheit, die Fortdauer jenseits der tief greifenden Veränderungen, die die Konjunkturen und Ereignisse der Braudelschen „moyenne durée“ und „courte durée“ mit sich gebracht hätten (S. 17). Die „europäische Kultur“ verknüpfe demnach, wie die anderen „Kulturen“ des Abendlandes, Tradition und Moderne, Christentum und Fortschritt, zwei Elemente, die ihm durchaus kompatibel erscheinen.

Die europäische Kultur verfüge jedoch über eigene (spezifische) Charakteristika, die sie insbesondere von der amerikanischen Kultur unterscheiden, deren Hauptmerkmale aus dem „alten Kontinent“ importiert wurden (S. 41): Das Gewicht der Geschichte verleihe Europa einen unerreichten, der Neuen Welt fremden kulturellen und geistigen Reichtum. Die das Erbe ihrer Geschichte und Geographie spiegelnde Vielfalt ihrer „nationalen Kulturen“ (S. 43) stehe ebenfalls im Gegensatz zu der augenscheinlichen Gleichförmigkeit des amerikanischen Raums und seiner Kultur: „Für einen Amerikaner, der an die Gleichförmigkeit der Institutionen und der materiellen Lebensbedingungen gewöhnt ist, […] erscheint dies alles wie ein Kaleidoskop von Bildern, in denen er die Quellen seiner eigenen Kultur nur mit Mühe erkennt“ (S. 44). Der Autor bietet dem Leser über eine bildhafte, farbenfrohe Darstellung Europas und seiner vielfältigen Kultur ein positives, überaus aufwertendes Bild der westlichen Kultur Europas. Diese erscheint dadurch der westlichen Kultur Amerikas überlegen, die als gleichförmig, jung und im Kern „materialistisch“ ausgelegt wird.

Die westliche Kultur Europas, die sich im europäischen, durch das Einigungswerk Karls des Großen geprägten Westen entwickelt und allmählich zur Mitte des Kontinents hin ausgedehnt habe, um schließlich das Herz des „Heiligen Russlands“ zu erreichen, habe die Welt im 19. Jahrhundert, dem wahren goldenen Zeitalter ihrer Macht, beherrscht. Ihre „Einflusssphäre“ sei jedoch in jüngster Zeit zugunsten der neuen „Kultur der Sowjetunion“ (S. 118) „beschnitten“ worden (S. 46): Sie sei von nun an auf den westeuropäischen Raum beschränkt.Das vereinte Europa des Gemeinsamen Markts sei aus der Notwendigkeit heraus entstanden, dem „alten Kontinent“ seinen Platz auf internationaler Ebene zurückzugeben und seine Unabhängigkeit gegenüber den zwei Weltmächten (USA, UdSSR) zu sichern. In Westeuropa habe Einigkeit die vergangenen Zerwürfnisse und Rivalitäten abgelöst. Für den Autor können solche tief greifenden Veränderungen, solche „Leistungen“, nicht ohne Folgen für die traditionellen „Aspekte“ der europäischen Kultur bleiben: Diese wandelt sich zwangsläufig aufgrund der neuen internationalen Lage. Der Ausbau der Verkehrsverbindungen dank des technischen Fortschritts, die Intensivierung der „kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern Westeuropas“ im Rahmen des neuen Zusammenschlusses und vor allem der Einfluss „der materialistischen amerikanischen Kultur“ begünstigen eine „Nivellierung“ des alten Kontinents, die fortan „seine nationale Vielfalt verblassen lässt“.

Wird eben ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen? Der Autor stellt sich Fragen, denn er sieht vor seinen Augen auf dem europäischen Boden eine neue, dem amerikanischen Modell näher stehende „Kultur“ entstehen, die den Rückzug Europas und seines Gesellschaftsmodells vor der Vorherrschaft der USA über die westliche Welt symbolisiert. Welchen Platz wird diese neue „westeuropäische Gesellschaft“ (S. 54) dem Menschen einräumen? Gehen die jüngsten Entwicklungen selbstverständlich in die richtige Richtung? „Die Staaten werden alle große Anstrengungen unternehmen müssen, um zu vermeiden, dass dieser Umbruch allzu ernste soziale Unruhen nach sich zieht. Sie werden zudem darauf achten müssen, dass das städtische Wohnen dazu dient, den Menschen zu befreien und sein Familienleben zu schützen, anstatt ihn einer unmenschlichen Welt aus Stein und Asphalt zu unterwerfen“ (S. 55). Wie Braudel in seinem Schulbuch von 1963 (Verlag Belin) schließt de Bertier dieses Kapitel ab, indem er seine Zeitgenossen vor einer materiell, oder gar materialistisch ausgerichteten, von sozialen und geistigen Belangen abgeschnittenen Kultur warnt. Der katholische Autor erhofft sich allerdings ein modernes, christliches und humanistisches neues Europa.

Maguelone Nouvel-Kirschleger
Übersetzung: Isabelle Quillévéré


Literatur

Angremy, Jean Piere (Hg.), Europe sans rivage. Symposium international sur l'identité culturelle européenne, Paris, [13-14] janvier 1988, Paris 1988.

Bossuat, Gérard, Faire l’Europe sans défaire la France, soixante ans de politique d’unité européenne des gouvernements et des présidents de la République française, Bruxelles 2006.

Yeche, Hélène (Hg.), Construction européenne : histoires et images des origines. Actes des journées d’études du MIMMOC, Université de Poitiers, juin-déc. 2007, Paris 2009.