Europäische Expansion in der Frühen Neuzeit

Kommentar

Das im Verlag Otto Salle in zweiter Auflage herausgegebene Lehrbuch wendet sich an Schüler der siebten Klasse der Oberschulen und Gymnasien. Die ausgewählte Passage stammt aus dem zweiten Teil („Der Anbruch einer neuen Zeit“) des größten Themenkomplexes des Buchs „Die erste deutsche Revolution und der Gegenangriff“, in dem Reformation und Gegenreformation behandelt werden. Die Schulbuchautoren fassen die Entdeckerfahrten und deren Folgen mit den Wirkungen der Kreuzzüge unter dem Oberbegriff „Erweiterung des Gesichtskreises“ zusammen. Es werden die Konsequenzen der Entdeckung neuer Seewege sowie die Entdeckung Amerikas für Europa hervorgehoben. Näher eingegangen wird auf die grundlegenden wirtschaftlichen und kulturellen Umwälzungen, die damit einhergingen: der Wandel von der Natural- zur Geldwirtschaft, der Import von Edelmetallen nach Europa, der Export von Waren in die Kolonien, die Erschließung von menschlicher Arbeitskraft durch Sklavenhandel und Kolonialismus sowie die Einflüsse der sogenannten Kolonialwaren und der eingeführten Pflanzen und Tiere auf die Lebensführung der Europäer. Die Bereicherung der europäischen Wissenschaften durch die aus der Kolonialisierung gewonnenen Erkenntnisse wird ebenfalls erwähnt. Auch die negativen Folgen der frühneuzeitlichen Kolonialisierung werden benannt durch Begriffe wie „Sklavenjagd“, „Eroberer und Ausplünderer“ oder den Hinweis auf die Vernichtung von „zum Teil“ hochentwickelten Kulturen und Völkern.

Europäische Expansion, und damit Kolonialismus, wird als ein „planmäßiges Aufsuchen fremder Länder“ seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als „die großartigste Völkerverschiebung“ im Sinne einer umfassenden Bevölkerungswanderung dargelegt. Die europäische Kultur, wie sie von den Eroberern, Plünderern und Kolonisten in die Welt getragen worden sei, habe alle bisher für sich einzeln existierenden Erdteile miteinander erfolgreich verbunden. Als „Gewinner“ werden die Europäer dargestellt: Die Entdeckungen leiteten demnach den „Siegeszug der Europäer und der europäischen Kultur über die Erde“ ein. Aus der Sicht der Schulbuchautoren markieren die Entdeckungen die Auflösung mittelalterlicher Lebensformen und den Übergang in eine „neue Zeit“, die für Europa Modernisierung, inneren Zusammenhalt und eine Vormachtstellung in der Welt bedeuteten. Die Metapher der „neuen Zeit“ stellt das Metanarrativ dieses Geschichtsbuches, das mit der Erschließung des baltischen Raums durch die deutsche Ostkolonisation beginnt und mit der Auflösung überkommener Ordnungen, der Erweiterung bisheriger Lebensräume sowie mit der Verwirklichung nationalhegemonialer Expansionstendenzen gefasst werden kann. Diese eurozentrische Sichtweise untermauern die Schulbuchautoren, indem sie eine Kontinuitätslinie der europäischen Expansion „von der deutschen Ostsiedlung bis zu den Anfängen Bismarcks“ bzw. faktisch bis zur Drucklegung des Lehrbuchs während des Zweiten Weltkrieges ziehen.

Ewa Anklam

Literatur:

Bitterli, Urs, Alte Welt – Neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jh., München 1986.

Blänsdorf, Agnes, Lehrwerke für den Geschichtsunterricht an Höheren Schulen 1933-1945: Autoren und Verlage unter Bedingungen des Nationalsozialismus, in: Lehmann, Hartmut; Oexle, Otto Gerhard u.a. (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Fächer, Milieus, Karrieren, Göttingen 2004, S. 273-370.

Burgdorf, Wolfgang, „Chimäre Europa“: antieuropäische Diskurse in Deutschland (1648- 1999), Bochum 1999.

Kletzin, Birgit, Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung, Münster 2000.

Osterhammel, Jürgen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen, München 1995.

Selmeier, Franz, Das nationalsozialistische Geschichtsbild und der Geschichtsunterricht 1933- 1945, München 1969.