Der Mittelmeerraum als Wiege der kulturellen Identität Europas

Kommentar

Seit dem Jahr 1995, das den Beginn des Barcelona-Prozesses durch die Außenminister der Mittelmeerstaaten im Rahmen einer „Partnerschaft Europa-Mittelmeer“ markiert, sehen die neuen französischen Lehrpläne vor, in einer globalen Perspektive sämtliche Kulturen des Mittelmeerraums im 12. Jahrhundert gemeinsam in dem gleichen Abschnitt des Schulbuches zu behandeln. Sie empfehlen, den Begriff des Umschlagplatzes hervorzuheben und diese Problematik durch eine Karte des Mittelmeerraums zu veranschaulichen, deren Abbildung am Anfang des Kapitels (S. 72-73) obligatorisch ist. Ganz im Geist des neuen, das starke Aufkommen der Kulturgeschichte widerspiegelnden Curriculums, stellen die Autorinnen und Autoren des bei Bréal erschienenen Lehrbuches den Mittelmeerraum als eine „Kontakt- und Konfliktzone“ zwischen Orient und Okzident, aber auch als einen „Raum des Austauschs“ dar (S. 71), der zwischen drei großen Nachbarkulturen – der byzantinischen, der arabischen und der abendländischen Kultur – „jahrhundertealte kulturelle Bindungen“ hergestellt hat. Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, bieten die Autoren auf der gleichen Seite, in Großformat und in den Farben rot-gold, das Foto des Krönungsmantels des normannischen Königs von Sizilien, Rogers II. (1105-1154), der skandinavische Abstammung und westliche Kultur verband. Dieser von sizilianisch-arabischen Künstlern in Palermo gewobene Mantel trägt eine aufgestickte arabische Inschrift und ist nach dem mohammedanischen (528) und dem christlichen (1133) Kalender datiert. Dieses als sehr ästhetisch und zugleich höchst symbolisch geltende Bild des Mantels Rogers II. ist zudem auf dem Schulbuchdeckblatt abgebildet.

Das von Garcia Dorel-Ferré herausgegebene Schulbuch geht bei diesen kulturellen Themen sogar noch weiter und ist innovativ im Vergleich zu den Werken derselben Generation, da es von „einer naturräumlich und geschichtlich gewachsenen, gemeinsamen Identität, einer städtisch-kosmopolitischen Kultur, einer singulären Lebensart“ (S. 70) der drei Kulturen spricht, deren Kohärenz in der Geschichte, der Kultur und der Religion begründet ist. Dem Schulbuch nach ist der Mittelmeerraum der Träger einer Identität, die die Unterschiede übergehen kann, ohne diese jedoch aufzulösen oder zu verleugnen. Diese Interpretation knüpft an die Aussage des „Mittelmeerphilosophen“ René Habachi an, der 1986 schrieb: „Unser ‚Binnenmeer’ ist klein genug, um seine Anrainer zu vereinen, und groß genug, um seine Besonderheiten auszuprägen“.1

Diese curricular vorgeschriebene Fokussierung auf das Mittelmeer als Umschlagplatz im Mittelalter erlaubt es, die drei relevanten Kulturen nebeneinander zu präsentieren. In diesem Geist führen die Autorinnen und Autoren die spezifischen Aspekte aus, auf welchen diese drei Kulturen ihre Kohärenz begründen, und betonen die aus einer geteilten, mediterranen Geschichte hervorgehenden gegenseitigen Einflüsse. Im Unterschied zu den Schulbüchern der 1980er Jahre, die den Okzident, den Orient und die arabische Welt in getrennten Kapiteln, unter Hervorhebung der europäischen Wurzeln und des Beitrags der anderen Kulturen zu Europa, behandelten, akzentuieren die Schulbücher von 1996 thematisch den gemeinsamen und zeitgleichen Charakter der geschilderten Ereignisse. In einer Zeit, wo der Islam eine immer größere Präsenz in der konfessionellen Landschaft Frankreichs und Europas zeigt, zielt der Schulbuchdiskurs darauf ab, die künftigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger an die historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten zu erinnern, die die Völker im Westen und im Osten über ihre Differenzen hinweg seit der Antike vereinen.

Der Eurozentrismus ist demzufolge in diesen neuen Schulbüchern nicht so deutlich ausgeprägt, wie es der Titel des Schulbuches vermuten lässt. Er bleibt jedoch immer latent, wie die Wahl des 12. Jahrhunderts als Hauptperiode im Curriculum der Seconde zeigt, eine Zeit, in der sich „Europa als Eroberer“ im Mittelmeerraum zunehmend profiliert, während das Goldene Zeitalter der arabischen Kultur schon vorüber ist (dieses Goldene Zeitalter der arabischen Kultur, ihre „klassische“ Epoche, liegt in der Tat zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert). So beginnt der dritte Teil des Lehrwerks mit der Feststellung, dass der Okzident im 12. Jahrhundert eine „aufstrebende“ Macht gegenüber einem „zunehmend gespaltenen und sich abschwächenden Orient“ darstellt (S. 71).

Die Einleitung verweist in der Folge auf die Fragestellung zur Identität Europas. Auf kontinentaler Ebene erweist sich die europäische Kultur als das Erbe verschiedener Einflüsse aus der Zeit der „griechisch-römischen Antike“ (S. 72) und des Mittelalters, als der Mittelmeerraum das Zentrum der zivilisierten Welt bildete. Für das moderne Europa ist dieses geteilte Erbe eine Quelle der Einheit, aber auch der Vielfalt, denn, wie der Autor deutlich macht, „das christliche Abendland […], das sich bis zur Nordsee erstreckt, ist nur in seinem südlichen Teil mediterran“ (S. 82). Es stellt sich dann unter anderem die Frage nach den „germanischen Quellen“ (S. 82) der europäischen Kultur.


Maguelone Nouvel-Kirschleger
Übersetzung: Isabelle Quillévéré

1Habachi, René, Pour une „Histoire de la Méditerranée“, in: Historiens & Géographes 75 (1985/86), Nr. 308, S. 925.

Literatur

Bouton, Pierre; Maurer, Bruno; Remaoun, Hassan (Hg.), La Méditerranée des Méditerranéens à travers leurs manuels scolaires, Paris 2012.

Habachi, René, Pour une „Histoire de la Méditerranée“, in: Historiens & Géographes 75 (1985/86), Nr. 308.

Hassani Idrissi, Mostafa (Hg.), Méditerranée : une histoire à partager, Montrouge 2013.