"Die Erneuerung des Kaisertums"

Kommentar

Das im Universitätsverlag Ferdinand Hirt in Breslau erschienene Schulbuch steht ganz im Geiste der wilhelminischen Bildungspolitik, deren Ziel es war, „nationale junge Deutsche und nicht junge Griechen und Römer“ heranzubilden. Das Lehrbuch umfasst die deutsche Geschichte vom Ende des Römischen Reiches bis zum Westfälischen Frieden 1648. Dabei ziehen die Autoren eine Kontinuitätslinie von der römischen Antike und den Germanenreichen der Völkerwanderung bis zum Mittelalter. Deutsche Nationalgeschichte wird auf diese Weise bis auf das Imperium Romanum zurückgeführt.

In dem gewählten Unterkapitel über Karl den Großen, das dem dritten Teil “Das Frankenreich unter den Karolingern“ entnommen wurde, wird die Bedeutung Karls für die Entwicklung der deutschen Nation herausgestellt. Karl erscheint als Einiger aller germanischen Stämme auf dem Festland und Erneuerer des weströmischen Kaisertums – jenes Universalreiches, das romanische und germanische Bevölkerungsanteile im Abendland vereinigte. Als „deutscher Imperator“, der die „Macht der früheren römischen Imperatoren besaß“, wird er in eine Traditionslinie mit den römischen Kaisern gestellt. Das Frankenreich wird somit als Nachfolger des römischen Reiches gedeutet und Karl als „erster deutscher Kaiser“ postuliert.

In der Schulbuchdarstellung zu Karl dem Großen finden sich auch an anderen Stellen alle Komponenten des Abendlandskonzepts wieder: römisch-antike, germanisch-fränkische und christliche Traditionen wurden zu einem seit dem 19. Jahrhundert sehr populären, romantischen Modell eines „christlichen Abendlandes“ verschmolzen, hinter dem sich, geographisch betrachtet, ausschließlich Westeuropa verbarg. Den Bezugsrahmen des Schulbuchs bildet allerdings nicht Europa, sondern allein die deutsche Nation, die in eine christlich-germanische Tradition gestellt und zur Nachfolgerin des Römischen Weltreichs erklärt wird. Karl der Große wird als deutscher Kaiser vereinnahmt und „nationalisiert“. Die ebenfalls mögliche Deutung Karls des Großen als Gründervater Europas und Stifter der abendländischen Kultur als „pater Europae“ ist hier noch nicht erkennbar. Diese Sichtweise gewinnt vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Bedeutung. In der nationalistischen Geschichtsschreibung des deutschen Kaiserreichs kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs erscheint Karl der Große geradezu als nationales Gegenbild zu Europa.

Ewa Anklam

Literatur:

Clauss, Martin; Seidenfuß, Manfred (Hg.), Das Bild des Mittelalters in europäischen Schulbüchern (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 5), Berlin 2007.

Heydorn, Heinz-Joachim, Zur Bildungsgeschichte des deutschen Imperialismus. Einleitung zur Neuherausgabe der Preußischen Schulkonferenzen 1890/1900 und der Reichsschulkonferenz von 1920, Glashütten/i. Taunus 1973.

Krüger, Gerhard, Die Stellung Karls des Großen in der deutschen und europäischen Geschichte, in: Vergangenheit und Gegenwart 32 (1942).

Schallenberger, Horst, Untersuchungen zum Geschichtsbild der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik: eine vergleichende Analyse deutscher Schulgeschichtsbücher aus der Zeit 1888- 1933, Ratingen/b. Düsseldorf 1964.