"Fortschrittsglaube"

Kommentar

Der vorliegende Oberstufenband wurde in einem kleinen Verlag mit Schwerpunkt in Botanik und Biologie Quelle & Meyer1 in seiner zweiten Auflage 1941 neu aufgelegt, nachdem er bereits 1937/1938 eine Überarbeitung erhalten hatte.2 Die mit den Herausgebern identischen Autoren waren der Berliner Oberstudienrat und vielfacher Schulbuchautor Bernhard Kumsteller und seine Kollegen Ulrich Haacke und Benno Schneider.3 Ihr für die siebte Klasse bestimmtes Lehrwerk dieser dreibändigen Reihe „Geschichtsbuch für die deutsche Jugend“4 umfasst den Zeitraum vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit (1850). Es handelt sich hier um ein sozialgeschichtlich orientiertes Geschichtsbuch, das bereits während der Weimarer Republik sehr verbreitet war und im Dritten Reich im nationalsozialistischen Sinne, nach entsprechenden Anweisungen, stark umgearbeitet wurde (Huhn 1982: 250; Blänsdorf 2004: 274f und 308).

Die gewählte Passage „Forschrittsglaube“ ist dem ersten Kapitel „Die Aufklärung als allgemein-europäische Geistesbewegung“ des fünften Teils „Die neue Weltanschauung setzt sich durch“ entnommen. Mit jener neuen Weltanschauung ist an dieser Stelle nicht die Aufklärung, sondern der Liberalismus gemeint, die Aufklärung stelle lediglich dessen „geistige Wurzeln“ dar. Die Autoren setzen sich in dem gesamten über zwanzig Seiten langen Teil mit den Grundwerten der Aufklärung, vornehmlich mit den Menschenrechten wie Freiheit und Gleichheit, und ihren Folgen auseinander. Hauptziel ihrer Kritik stellt dabei der Glaube der Aufklärer an „den angeborenen Adel der menschlichen Natur“ ohne Unterschied von Rasse, Stand oder Nationalität, an die Verstandeskraft und an den Fortschritt dar, da er die „Grundlagen des Staates und des Volkes erschüttert“ haben soll (S. 238-247; Matthes 2004). Der Terminus „Fortschritt“ ist sehr verkürzt gefasst und bedeute, so der Schulbuchtext, „eine einzige Aufwärtsbewegung“ der allgemeinen Menschheitsgeschichte, die laut Aufklärung in ihr gipfeln sollte. Jene habe versucht, „die Schätze des Wissens“ breiteren Schichten zugänglich zu machen. Als Beispiel dafür wird hier auf die französische, in „alle Kultursprachen“ übersetzte Enzyklopädie verwiesen.

Ein so aufgefasster Glaube an den Fortschritt in der Menschheitsgeschichte sei verzerrt und der „deutschen Art“ fremd, so Kumsteller, denn in Deutschland kenne man „nur Geschichte von Rassen und Völkern“ als Träger der Weltgeschichte (Manker 1992: 107). Um der Kritik der nach Ansicht der Autoren entarteten Anschauung mehr Ausdruck zu verleihen, ist dem Text eine zeitgenössische Karikatur „Spottbild auf die Aufklärung“ beigegeben, die allerdings mit keinem Abbildungsnachweis versehen und nur sehr schlecht wiedergegeben ist (S. 241). Als Anschauungsmaterial ist sie dennoch aussagekräftig: Zentralfigur des Spottbildes bildet ein vielköpfiges Mischwesen, eine Chimäre, die vermutlich das Werk der Enzyklopädisten karikieren soll; deren Köpfe werden auch als Köpfe der Kreatur dargestellt.5 Die Verschmähung des Gedankengutes der Aufklärer im Allgemeinen und der Enzyklopädisten im Speziellen als das eigentliche Ziel dieser Lehreinheit wird in dieser vor drastischen Mitteln nicht zurückschreckenden Darstellung auf die Spitze getrieben.6

Die Kapitelüberschrift „Aufklärung als eine allgemein-europäische Geistesbewegung“ ist leicht irreführend, heben die Autoren im Text doch ihren „westeuropäischen Ursprung“ hervor (S. 236, 247). Die Hauptideen gingen auf England und Frankreich zurück, doch sind es auffallend überwiegend die Franzosen, die kritisch beäugt werden. Die Vorstellung einer untrennbaren Verbindung von Freiheit und Gleichheit, die das Prinzip der Gleichstellung der Religionen einschloss, ebenso die Idee des Weltbürgertums, die mit Blick auf die gleichberechtigte Stellung der jüdischen Kultur und Religion von den Nationalsozialisten als besonders verhängnisvoll angesehen wurde, stammten von dort (S. 249f). Kumsteller kritisiert daran, dass gerade jene Ideen die gesamte „rassische Geschichtsbetrachtung“ rückschrittlich erscheinen und die Völker im irrigen Glauben lassen würden, dass Kriege nur „durch internationale Schiedsgerichte und einen Völkerbund“ zu vermeiden seien. Die Feststellung, dass der „europäische Geist der französische Geist auf Reisen“ sei, ist in diesem Zusammenhang darauf angelegt, die Aufklärung als eine Fassade des französischen Nationalismus zu demaskieren (S. 245). Das „Allgemein-europäische“ der Aufklärung, ihre internationale Dimension also, wird damit ins Gegenteil verkehrt.

Im Lehrbereich „Die Aufklärung als Grundlage des Zeitalters des Liberalismus“ schrieben die neuen Lehrpläne (1938)7 für die siebte Klasse vor, u.a. die „Überschätzung des Verstandes und der Theorie“, das „Weltbürgertum und Ablehnung vom Volkstum“ sowie den „flachen Nützlichkeitsstandpunkt und Fortschrittsglauben“ kritisch darzulegen. In diesem Zusammenhang sollte die „Judenfrage“ behandelt bzw. der Einfluss der Juden in Europa seit Luther aufgezeigt werden (Erziehung und Unterricht 1938: 99). Die Kritik der Aufklärung wird in das in dem Erlass zum Ziel erklärte „Ringen gegen mittelmeerische Überfremdung“ Deutschlands eingeordnet. Diese Vorgaben werden in dem Kumstellerischen Lehrwerk, das den französischen Beitrag zur Aufklärung zum Gegenstand einer boshaften Kritik, bzw. zur Entstellung im Sinne der Nationalsozialisten, freigibt, entsprechend der Erziehungsideologie im Dritten Reich umgesetzt. Viel Platz räumen die Schulbuchautoren den Nachwirkungen der Aufklärung bzw. dem Umgang mit ihrem Erbe im 19. Jahrhundert ein: Die sogenannte „Judenemanzipation“, der „westeuropäische Imperialismus“ oder der Marxismus machten in ihren Augen die völlige „Entartung“ der Ideen der Aufklärung deutlich (S. 249-257).

„Das nordische Erbe“, „die deutsche Art“ und der an dieser Lehreinheit vorgeführte Gedanke einer von der Rassentheorie begründeten, „naturbedingten Ungleichheit“ aller Menschen bilden die Grundlagen der „völkischen Weltanschauung“, wie sie Adolf Hitler in „Mein Kampf“ formulierte (1932). Da Hitler die allgemeinen Menschenrechte nicht für allgemeingültig, sondern im Gegenteil für eine jüdische Erfindung hielt, konnte das von ihm vorgeschriebene Erziehungsbild nur eine Ablehnung der Grundwerte der Aufklärung bis hin zur Ablehnung der internationalen Schiedsgerichte und Friedensorganisationen und allen ihnen zugrundeliegenden universalen Gedankenguts bedeuten. Aus dem seit 1935 für das gesamte Reich geltenden Erlass zur Rassenkunde des Reichserziehungsministers Bernhard Rust ging deshalb auch eine Zurückweisung der „so genannten Demokratie oder anderen Gleichheitsbestrebungen (Paneuropa, Menschheitskultur)“ hervor. Herrschaftsansprüche im Sinne Hitlers ergaben sich ausschließlich aus dem „rassisch bedingten Führungsanspruch [der Deutschen] im europäischen Rahmen“ (Fricke-Finkelburg 1989; Manker 1992; Matthes 2004).

Als Gesamteindruck der nationalsozialistischen Erziehungsideologie bleibt eine ad absurdum geführte Aufklärung zurück. Ihre Werte und Ziele erscheinen in sich widersprüchlich, ihre Nachwirkungen „verhängnisvoll“. Weder in geopolitischer noch in kultureller Hinsicht wird die Aufklärung zur Grundlage einer Gemeinschaft stilisiert. Sollten die Schulbuchautoren den gesamteuropäischen Grundgedanken dennoch erwogen haben, worauf zumindest die Kapitelüberschrift „Aufklärung als allgemein-europäische Geistesbewegung“ schließen lässt, so haben sie diesen lediglich zum Anlass genommen, alles Universelle, Demokratische und Friedensfördernde im Gedankengut der Aufklärung – und laut Hitler im Judentum verkörpert – so zu verzerren, damit eine Negativfolie entsteht, um die völkische, heroische deutsche Art als die einzig erstrebenswerte Gemeinschaft – Volksgemeinschaft – hervorzuheben.

Ewa Anklam

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1 Die Archive des Verlags in Leipzig bis 1945 wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Restbestände befinden sich im Sächsischen Staatsarchiv in Leipzig. Vgl. Blänsdorf (2004), S. 276.

2 Erziehung und Unterricht in der höheren Schule: Amtliche Ausgabe des Reichs- und Preußische Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin 1938. Darin wurden die Ideen der Französischen Revolution, der Liberalismus, der Kapitalismus, der Marxismus, das Freimaurertum und die katholische Kirsche zu neuen Feindbildern erklärt Vgl. Blänsdorf (2004), S. 293 und 311.

3 Bernard Kumsteller (geb. 1890): Studienrat 1916-1936, Mitglied des Geschichtslehrverbandes (1924-1933); Ulrich Haacke (geb. 1830): Studienrat in Berlin Zehlendorf um 1932, besonders populär nach 1933, darüber hinaus Autor von „Die Aufklärung im deutschen Schrifttum“ (1931); Benno Schneider (geb. 1881): Lehrer, seit 1928 Fachseminarleiter und seit 1934 Oberstudiendirektor und Schulleiter in Berlin. Siehe Blänsdorf (2004), S. 308f.

4 Die Reihe „Geschichtsbuch für die deutsche Jugend“ kam seit 1923 heraus und „folgte der neuen didaktischen Forderung nach ‚gefühlsmäßigem Nacherleben’ der Geschichte durch emotionale, ‚novellistische’ Schilderungen“. Quelle & Meyer war neben Diesterweg, Teubner und Hirt einer der führenden Verlage im Dritten Reich, das bekanntlich keinen freien Verlagwettbewerb mehr zuließ. Vgl. Blänsdorf (2004), S. 299 und 307.

5 Die Autoren der Encyclopédie galten als die größten Geister ihrer Zeit. Als Herausgeber fungierten drei von ihnen: Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert und Chevalier Louis de Jaucourt.

6 Ironischerweise wird hier auf ein populäres Darstellungsmittel zurückgegriffen, das im späten 18. und frühen 19. Jh. in Graphikhandlungen allen Gesellschaftsschichten tatsächlich zugänglich war: die Karikatur. Das hier verwendete Spottbild ist wahrscheinlich englischer Provenienz. Die englischen Karikaturisten wandten sich bekanntlich an das breite Publikum, die Französische Revolution bzw. die Napoleonische Zeit waren beliebte Themenfelder der Bloßstellung.

7 Im Nationalsozialismus blieben Lehrpläne und Lehrmaterialien der Weimarer Republik zunächst unverändert. Das änderte sich im Jahr 1938, als neue Richtlinien für den Primar- und Sekundarbereich mit dem Erlass „Über Erziehung und Unterricht in der höheren Schule“ verordnet wurden. Das Reichserziehungsministerium setzte damit die nationalsozialistische Ideologisierung des herkömmlichen Curriculums sukzessiv durch.

Literatur:

Blänsdorf, Agnes, Lehrwerke für Geschichtsunterricht an Höheren Schulen 1933-1945: Autoren und Verlage unter Bedingungen des Nationalsozialismus, in: Lehmann, Harmut; Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Fächer - Milieus - Karrieren (Bd. 1), Göttingen 2004, S. 273-370.

Erziehung und Unterricht in der höheren Schule: Amtliche Ausgabe des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin 1938.

Fricke-Finkelburg, Renate (Hg.), Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933-1945, Opladen 1989.

Gies, Horst, Geschichtsunterricht unter der Diktatur Hitlers, Köln 1992.

Huhn, Jochen, Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik, in: Bergmann, Klaus; Schneider, Gerhard (Hg.), Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500 bis 1980, Düsseldorf 1982, S. 218-260.

Manker, Petra, Schulgeschichtsbücher im nationalsozialistischen Deutschland: eine exemplarische Untersuchung zur Totalität der NS-Herrschaft und ihrer Grenzen, Examensarbeit Univ. Konstanz, 1992.

Matthes, Eva, Die aufgegebene Aufklärung: Höhere Schulen im NS-Staat, in: Hopfner, Johanna; Winkler, Michael (Hg.), Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft, Weinheim/München 2004, S. 124-142.

Selmeier, Franz, Das nationalsozialistische Geschichtsbild und Geschichtsunterricht 1933-1945, München 1969.