"Die Eroberung Galliens durch Cäsar"

Kommentar

Ein sehr großer Teil der Schulbuchproduktion im Kaiserreich kam aus der Provinz, u. a. aus Breslau, wie der im Hirt Verlag herausgegebene Band aus der bekannten Reihe „Pfeifers Lehrbuch der Geschichte“. Der seit dem 19. Jh. bestehende Verlag Ferdinand Hirt war noch im Jahr 1906 der vierterfolgreichste Schulbuchlieferant für höhere Schulen in Preußen. Hirts Lehrbücher waren in Benutzung an über 2.500 Schulen und dort mit über 50 Titeln vertreten. Als Spezialgebiet des Verlages galten die Fächer Geographie, Naturwissenschaften und Mathematik (Jäger 2003; Kreusch 2008).

Der Behandlung des Kapitels über „Cäsars letzte Kriegsjahre in Gallien (55-50)“ geht in diesem Schulbuch die Schilderung der Erschließung der „atlantischen Seite Europas“ von Cäsar und den Kaisern der griechisch-römischen Kultur voraus (S. 133 ff). Die Eroberung der gallischen Provinz wird in einem Universalzusammenhang gedeutet. Der Autor nimmt in der Passage Bezug auf den eingangs des Buchs geäußerten Gedanken über die in Griechenland und Rom zu suchenden geschichtlichen Wurzeln der europäischen Kultur (S. 7). In der ersten Auflage (1904) überwogen mehr welt- als nationalgeschichtliche Gesichtspunkte bei der Stoffeinordnung und dessen Auswahl, obschon die Antike spätestens mit dem Preußischen Lehrplan von 1901 dazu „verwandt“ wurde, „den nationalen deutschen Geist zu stärken“ (Lehrpläne 1913; Bergmann 1982).

In der vorliegenden Neubearbeitung von Prof. Karl Bruchmann wurde der Forderung nach mehr „nationaler Basis“ und „Gegenwartsnähe“, wie sie in der „Allerhöchsten Order“ des Kaisers 1900 formuliert wurde, entsprochen. Die Alte Geschichte sollte im zweiten Durchgang in der Obersekunda dreistündig in der Woche und nur noch bis zum Tod des Kaisers Augustus behandelt werden (Erdmann 1992). Darin wurden entsprechend dem Lehrplan die Hauptereignisse der griechischen und römischen Geschichte abgehandelt, wobei auf die verfassungs- und kulturgeschichtlichen Fragen vergleichend einzugehen war. Die seit der Lehrplanänderung 1901 ausführlichere Behandlung der römischen Kaiserzeit wurde beibehalten. Auffälliger sind Parallelen zum Kaiserreich bzw. zu aktuellen Ereignissen.

Der Schulbuchautor stellt die Eroberung der gallischen Provinz durch die Römer im Sinne der Ausbreitung der romanischen Welt in Europa als eines der bedeutendsten Ereignisse in der europäischen Geschichte dar. Ihr Stellenwert wird zunächst für Rom, dann für Gallien, für die europäische Geschichte und schließlich für die Germanen dargelegt. In dieser „griechisch-römischen Welt“ (S. 135) solle, so der Autor, der die Geschichte Europas kennzeichnende Gegensatz zwischen Romanen und Germanen entstanden sein. Dabei wird der im Text wiederholt angedeuteten Kriegstüchtigkeit und Gefolgschaftstreue der Germanen der „niedere Stand der geistigen Kultur Galliens“ gegenübergestellt.

Weder die Romanisierung – die Übernahme römischer Sitte, Sprache etc. durch andere Völker, – die insbesondere in Gallien ausgeprägt war, noch Handel und Verkehr stehen im Vordergrund, obwohl die Bedeutung des römischen Einflusses im Zusammenhang der gallischen Geschichte erwähnt wird. Positiv hervorgehoben wird der Beitrag der Germanen, deren militärischer Söldnerdienst am römischen Weltreich. Es sind „germanische Reiter“, die zum Ruhm Roms wesentlich beigetragen haben sollen (S. 137). Hier erscheint das Militär Roms, bzw. die Germanen als Teil desselben, als Vermittler der Romanisierung, was einen wichtigen Schwerpunkt dieser Lehreinheit ausmacht (Erdmann 1992).

Diese „erste“ Eroberung Galliens öffnete den Norden Europas für die Rezeption der griechisch-römischen Kultur, wovon auch die Germanen profitiert haben. Nordeuropa wird in diesem Kontext zum ersten Mal als Schauplatz – und Schwerpunkt – der europäischen Geschichte, die sich nicht mehr ausschließlich auf den Mittelmeerraum bezog, definiert. Der hier verwendete Europabegriff ist vornehmlich durch diese geopolitischen Erwägungen geprägt.

Auf der Schulkonferenz 1900 wies der Kirchenhistoriker Prof. Adolf Harnack auf die Gegenwartsbedeutung der römischen Kaiserzeit in weltpolitischer Hinsicht. Für ihn war die römische Kaiserzeit dazu geeignet, Anschauungsunterricht darüber zu geben, wie eine Weltmacht entsteht. Wilhelm Pfeifer verdeutlichte diesen Gedanken in seinem Schulbuch: Jene „große Neuschöpfung“, das römische Kaisertum, habe „das politische Denken der Germanen auf mehr als ein Jahrtausend hinaus beeinflusst“ (Vorbemerkung zur ersten Auflage). Kritisch legte Heinz-Joachim Heydorn in seiner Einleitung zur Neuausgabe der Preußischen Schulkonferenzen 1890/1900 diese Tendenz aus: Die Weltrolle des imperium romanum sei, in Anlehnung an das Kaiserreich, „zur Weltrolle des imperium germanicum“ verkehrt worden. Am Ende des Kaiserreichs war es, wie noch im 19. Jahrhundert, nicht mehr die Sache der Schule, sich der klassischen Geschichte in humanistischer bzw. universalgeschichtlicher Absicht zu näheren. Die Erziehung zum republikanischen Weltbürgertum wich der Nationalerziehung.

Ewa Anklam

Literatur:

Bergmann, K., Imperialistische Tendenzen in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht ab 1890, in: Bergmann, K. u. a. (Hg.), Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500 bis 1980, Düsseldorf 1982, S. 190-217.

Erdmann, Elisabeth, Die Römerzeit im Selbstverständnis der Franzosen und Deutschen. Lehrpläne und Schulbücher aus der Zeit zwischen 1850 und 1918, Bochum 1992.

Heydorn, H.-J., Einleitung zu: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin 6.-7.06.1900, in: Ders., Zur Bildungsgeschichte des deutschen Imperialismus. Einleitung zur Neuherausgabe der Preußischen Schulkonferenzen 1890/1900 und der Reichsschulkonferenz von 1920, Glashütten/i. Taunus 1973.

Jäger, G., Der Schulbuchverlag, in: Jäger, G. (Hg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jh., Bd. 1: Das Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt/M. 2003, S. 62-102.

Kreusch, Julia, Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses als Schulbuchverlag zwischen 1830 und 1918. Die erfolgreichen Geografie- und Geschichtslehrbücher und ihre Autoren, Tübingen 2008.

Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen in Preußen, Berlin 1913.