Die europäische Hauptstadt Paris

Kommentar

Der Münchener Studienrat Hans Winter konzipierte dieses im Jahr 1911 bereits in siebter Auflage erschienene Lehrbuch der Deutschen und Bayerischen Geschichte für die Oberstufe der höheren Lehranstalten.1
Der Band hat die „Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn“ bzw. die Neue Zeit zum Thema und war der zweite und letzte Teil der im bayerischen Oldenbourg Verlag publizierten Reihe. Der Autorentext über die ersten Weltausstellungen und den „Mittelpunkt der europäischen Politik“, den Winter auf die französische Hauptstadt Paris bezieht, befindet sich im Kapitel zum Kaisertum Napoleons III. (1854-1870) und ist dem fünften und letzten Abschnitt des Buches über die Neueste Zeit seit 1815 zugeordnet. Aus der Einteilung des Lehrstoffs ist zu ersehen, dass neben den wichtigsten Ereignissen der deutschen Geschichte explizit „den Verhältnissen der europäischen Völker“ Raum gelassen wird.

Winters Geschichtsauffassung von „europäischen Kulturstaaten“ (S. 225) lässt primär ein altes „monarchisches Europa“ sichtbar werden. Anteil daran hätten die Großmächte, die wie Frankreich und Preußen durch eine erfolgreiche Kriegführung ihre Dazugehörigkeit bewiesen. Die Verbundenheit der deutschen und französischen Geschichte wird an mehreren Stellen hervorgehoben, z.B. im Zeitalter Ludwigs XIV. und ganz besonders während der Französischen Revolution bzw. der Befreiungskriege, so dass „beide [Länder] ohne unnatürliche Trennung der ineinanderwirkenden Ursachen und Ereignisse nicht gesondert werden können“ (S. 91).

Während am Beispiel Napoleons I. kein Universal- oder Europagedanke explizit formuliert, stattdessen die kaiserliche Herrschaftssymbolik in Tradition römischer Imperatoren betont wird (S. 122), lässt die Darstellung der Zeit Napoleons III. mehrere Deutungsmöglichkeiten offen. Winter betrachtet seine Herrschaft in der Tradition des Napoleon Bonaparte, doch sei nun Frankreich mehr als nur „Mittelpunkt der europäischen Politik“. Der Schulbuchautor leitet seine Ausführungen über diese Epoche mit der Beschreibung der Hauptstadt Paris zur Zeit der Weltausstellungen ein. Paris wird als Industriemetropole des überseeischen Handels und ein weltweiter Anziehungspunkt dargestellt: Die Stadt technischer Erfindungen rückt nunmehr in den Rang eines Hauptorts der Weltausstellungen auf.

Zur Zeit der Industrialisierung führten Weltausstellungen neben Eisenbahn und Dampfschiff zur Beförderung von Mensch, Idee und Ware. Sie beschleunigten und vereinfachten deren Austausch über die Grenzen des Kontinents hinaus. Die ersten vier wurden in London (1851, 1862) und in Paris (1855, 1867) ausgerichtet. Unter einem Dach fand sich auf einen Fleck beinahe die ganze Welt zusammen. Aber auch darüber hinaus zog Paris Reisende und Migranten an, während sich schließlich in dessen öffentlichen Bauwerken die imperiale Herrschaft ausdrückte (Osterhammel 2004).2

Während jener Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 erließ Victor Hugo ein heute viel zitiertes Manifest „an die Völker Europas“. Darin entwarf er eine Vision von Paris, das als die Hauptstadt Europas zu einer Weltstadt stilisiert wird. Winter erwähnt aber weder das Dokument noch steht Europa eigentlich im Fokus seiner Ausführungen: Es sind nationale Eigeninteressen und die Machtverteilung im „Konzert“ der Großmächte seit dem Wiener Kongress, die im Schulbuch in den Vordergrund gestellt werden. Die imperialen Kontexte sind stellenweise überdeutlich. In den Lehrplänen am Ende des Kaiserreichs3 war eine Annäherung an die Weltgeschichte erwünscht, nicht jedoch in weltbürgerlicher bzw. universalhistorischer Absicht. Die Notiz über die europäische Weltstadt Paris ist lediglich eine kleingedruckte Passage mit Fußnotencharakter. Weltausstellungen – aus heutiger Sicht als Beitrag zum europäischen frühmodernen Globalisierungsprozess zu deuten – boten damals, ganz lehrplangerecht, keinen solchen Anlass für den Schulbuchautor.

Die kurze Passage über Paris als Zentrum der imperialen Welt ist ansonsten eingebunden in einen Text, der ausschließlich kriegsgeschichtliche Ereignisse, darunter koloniale Eroberungen, behandelt: den Krimkrieg 1854-1856, den Zweiten Opiumkrieg 1857-1860, den Italienischen Einigungskrieg von 1859 sowie den Französisch-Mexikanischen Krieg 1861-1867. Diese traditionelle Darstellung, die Europa gegenüber Außereuropa auf eine „höheren Stufe der Kultur“ stellt (S. 36 f), zeigt schließlich, dass koloniale Interessen der bedeutenden europäischen Mächte die Idee von Europa obsolet und nur noch als „geographische Notiz“ (Bismarck) 4 sinnfällig machen mussten zu einer Zeit, als sich die (alten) Großmächte bereits (am Ende des Kaiserreichs) in die (neuen) Weltmächte bzw. Kolonialmächte verwandelt und innereuropäische Konkurrenzen über den Ozean – und wieder zu ihren Zentren in Europa zurück – getragen hatten.

Ewa Anklam

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1 - Das Gymnasium bestand aus vier Jahrgängen (für 14-18jährige Schüler), wovon die zwei letzten die Oberstufenklassen waren. Vgl. Baumgärtner, U., Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Staatliche Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jahrhundert (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 21), Idstein 2007, S. 73 ff.

2 - Osterhammel, J., Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History 2 (2004), Heft 2, S. 157-182, S. 177 f.

3 - Im Königreich Bayern galt neben dem Preußischen Lehrplan vom 1901, der für ganz Kaiserreich bindend war, noch die Schulordnung von 1891.

4 - Die Auffassung des Reichskanzlers über Europa als „notion géographique“ siehe Plessen, M.-L. von (Hg.), Idee Europa: Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union; eine Ausstellung als historische Topographie. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 25. Mai bis 25. August 2003, Berlin 2003, S. 201.


Literatur:

Barth, Volker, Mensch versus Welt. Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 2007.

Baumgärtner, Ulrich, Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Staatliche Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jahrhundert (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 21), Idstein 2007.

Osterhammel, Jürgen, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History 2 (2004), Heft 2, S. 157-182.

Plessen, Marie-Louise von (Hg.), Idee Europa: Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union; eine Ausstellung als historische Topographie. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 25. Mai bis 25. August 2003, Berlin 2003.