Die Nationalstaaten und der Aufbau Europas

Kommentar

Auf der großen, sehr bunten Karte, die drei Viertel der zweiten Doppelseite des Kapitels „Die Nationalstaaten und der Aufbau Europas“ einnimmt, liefern die Autoren wichtige, geopolitische Informationen über die zwölf Nationalstaaten Westeuropas, die im Jahre 1989 am Aufbau Europas mitwirkten: Man findet Hinweise auf die jeweiligen Strukturen der Politik und der Verwaltung, sowie auf die Anzahl der europäischen Abgeordneten pro Land. Durch die Zusammensetzung der Pastellfarben und die unterschiedlichen Symbole, die hier zur Darstellung von Regierungsformen dienen, heben die Autoren die Vielfalt der politischen Kulturen in diesem Europa der Nationen hervor. Diese Vielfalt wird im Übrigen als ein Hindernis auf dem Weg zur politischen Einigung Europas dargestellt, während ein wirtschaftlich starkes Europa aufgebaut wird.

Die Vielfalt der politischen Kulturen führt auch in den 1980er Jahren zur Zwietracht innerhalb der EWG, wie eine deutsche Karikatur aus dem Jahr 1985 „Europa bleibt stecken“, veranschaulicht: Diese auf der rechten Seite der Eingangsdoppelseite im Großformat abgebildete Karikatur zeigt die führenden Repräsentanten der Mitgliedstaaten (darunter Mitterrand, Kohl und Thatcher) in heftigem Streit miteinander; dies beweist, dass die deutschen Karikaturisten denselben ironischen Blick auf die europäische Verständigung zu dieser Zeit werfen.

Die Institutionen der EWG sind auf der Karte auch als kleine goldene Zahlen auf ‚europablauem’ Hintergrund dargestellt. Aus der Sicht der Autoren befinden sich diese Institutionen genau im „Zentrum Europas“, im blau umrandeten „Herzen des politischen Europas“, genau wie die in blau dargestellte deutsch-französische „Achse“, die so als Brücke zwischen Paris und Bonn erscheint, die auf den beiden „Stützen Europas“ ruht. Diese Darstellung des deutlich umrissenen „Zentrums Europas“ und der deutsch-französischen Achse ist ganz außergewöhnlich im Vergleich zu anderen Schulbüchern derselben Generation. Die Autoren unterstreichen dies noch durch eine Karte des „Europa der Sechs“, auf welcher die deutsch-französische Achse als ein weinroter Doppelpfeil dargestellt ist (S. 195). Die deutsch-französische Versöhnung wird zudem noch durch einen Rahmen auf einer Darstellung der europäischen Einigung im Kontext des Kalten Krieges hervorgehoben (S. 191). Die Autoren legen mehrfach den Akzent auf den zentralen Platz Frankreichs und Deutschland in der EWG, die als ein deutsch-französisches Europa erscheint. Dieses Europa weist somit die anderen Mitgliedstaaten in die „Peripherie“ zurück: Ein Bild, das einen dazu anregt, über das Gleichgewicht der Stimmen im europäischen Chor zu reflektieren.

Die Autoren betonen erneut die Stabilität des „deutsch-französischen Paars, Motor des europäischen Einigungsprozesses“ auf einer Doppelseite, die den Fortbestand der deutsch-französischen Freundschaft aufgrund der guten Beziehungen zwischen den einzelnen Staatsoberhäuptern zum Gegenstand hat. Dieses Spezialdossier enthält unter anderem das berühmte Foto, auf dem sich François Mitterrand und Helmut Kohl 1984 in Verdun die Hand gereicht haben und das in den Schulbüchern von 2004 und 2008 oft abgebildet ist. Dieses Foto symbolisiert die Wiederherstellung des Friedens in Europa, die ohne die deutsch-französische Versöhnung nicht möglich gewesen wäre.

Schließlich nimmt Frankreich in goldgelb auf der Karte einen zentralen (geographischen) Platz in Westeuropa ein (S. 186-187). Es ist fast ein französisches Europa, was sich in der systematischen Hervorhebung der Rolle Frankreichs im europäischen Einigungsprozess im Laufe des Schulbuchkapitels zeigt. Auf der linken Seite der Eingangsdoppelseite ist z. B. das Foto von Jean Monnet anlässlich des „Anlaufs der EGKS“ im Jahre 1953 im Großformat abgebildet (S. 184). Um die Gründung der EGKS im Jahre 1951 zu veranschaulichen (S. 203), haben die Autoren ein Foto ausgesucht, das im Vordergrund ebenfalls die Franzosen Monnet und Schuman zeigt (S. 191). Diese werden zudem als die „Schlüsselfiguren“ am Beginn des europäischen Einigungsprozesses dargestellt. Die Autoren bieten auch ein Foto des im Jahre 1979 zum ersten Mal direkt gewählten Europäischen Parlaments, auf dem seine erste Präsidentin, die Französin Simone Veil, auf der Tribüne zu sehen ist. Hiermit erinnern die Autoren erneut an die entscheidende Rolle Frankreichs für den Aufbau eines geeinten, demokratischen Europas.

Maguelone Nouvel-Kirschleger

Übersetzung: Isabelle Quillévéré


Literatur

Bitsch, Marie-Thérèse, Histoire de la construction européenne de 1945 à nos jours, Bruxellles 2001.

Catala, Michel (Hg.), Histoire de la construction européenne (cinquante ans après la déclaration Schuman), Actes du Colloque international de Nantes, 11, 12 et 13 mai 2000, Nantes 2001.

Du Reau, Elisabeth, L’Europe en construction. Le second vingtième siècle, Paris 2007.

Id., La construction européenne au XXe siècle : Fondements, enjeux, défis, Nantes 2007.

Leduc, Jean, Enseigner l’Europe ?, in: Espaces Temps 66/67 (1998), S. 34-42.

Pingel, Falk, La maison européenne : représentations de l’Europe du 20e siècle dans les manuels d’histoire, Strasbourg 2000.