"Die Europäische Expansion"

Kommentar

Der Autor geht der Frage nach, warum sich Europäer im 19. Jahrhundert den Völkern auf anderen Kontinenten überlegen fühlten und in welchem Ausmaß dieses Überlegenheitsgefühl die europäische Expansion gefördert hat. Er unterstreicht die Einheit Europas, die Gemeinsamkeiten, die die europäischen Mächte verbinden und sie von anderen Ländern der Welt unterscheiden. Diese Gemeinsamkeiten sind zugleich demographischer, ökonomischer und kultureller Art. So spricht der Autor von den „Werten der europäischen Kultur“, vom „Überlegenheitsgefühl des Europäers“ und vom „Auftrag“, den dieser gegenüber den „minderwertigen Rassen“ zu erfüllen gedenkt. Der Autor entwickelt hier das Thema der Handlungseinheit der europäischen Mächte, die gegenüber der „rückständigen Welt“ eine ähnliche Haltung einnehmen. In diesem Narrativ wird Europa personifiziert. Es agiert als wahre moralische Entität, von einem ganz eigenen Bewusstsein geleitet.

Eine massive, von den europäischen Staaten aktiv betriebene Auswanderung aus Europa in andere Kontinente findet zunächst statt. Innerhalb dieser gemeinsamen Strategie lassen sich jedoch Unterschiede hinsichtlich der Auswanderungsziele und des jeweiligen Umfangs der Auswanderungsströme unter den europäischen Ländern feststellen. Diese Einheit in der Vielfalt ist auf einer Karte der „Migrationsströme im 19. Jahrhundert“ anschaulich dargestellt. Die imposante Karte nimmt die obere Hälfte der Schulbuchseite ein. Die europäischen Auswanderungsströme sind in rosaroter Farbe gekennzeichnet, so dass die Bedeutung der damaligen europäischen Migrationsströme und die Vormachtstellung Europas auf diesem Gebiet deutlich sichtbar werden, da auf jedem Pfeil das jeweilige Auswanderungsland und die entsprechende Anzahl von Auswanderern angegeben sind. Die Länder Europas exportieren auch ihre Waren in alle Welt, und ihre Gelder sind international im Umlauf. Als erste Wirtschaftsmacht regiert Europa die Welt. Es bestimmt die internationale Arbeitsteilung.
Das Schulbuch bietet neben Auszügen aus zeitgenössischen Dokumenten, die von der „moralischen Legitimierung“ der europäischen Expansion handeln, auch Dokumente, die den kapitalistischen Imperialismus Westeuropas kritisieren. Auf der Basis dieser divergierenden Sichten der Thematik regt der Autor den Leser an, über die „Haltung“ Europas im 19. Jahrhundert, über die Konzepte der Expansion und des wirtschaftlichen und kulturellen Imperialismus nachzudenken; er führt sodann im nächsten Kapitel die mit der kolonialen Expansion und dem politisch-militärischen Imperialismus verbundenen Themen ein. Eine Frage stellt sich jedoch: Benutzt vielleicht der Autor in einem Kontext der Debatte über die imperialistische und koloniale Politik der 1980er Jahre den Begriff „Europa“ – meistens ohne zwischen den Ländern zu unterscheiden – um auf den allgemeinen Charakter dieser Expansion das Gewicht zu legen und somit die Verantwortung Frankreichs innerhalb einer umfassenden Darstellung der Fakten auf Kontinentalebene abzumildern? Verfolgt er eine Legitimierungsstrategie hinsichtlich der französischen Haltung?

Maguelone Nouvel
Übersetzung: Isabelle Quillévéré-Eberle

Literatur:

Constantini, Dino, Mission civilisatrice : le rôle de l'histoire coloniale dans la construction de l'identité politique française, Paris 2008.

Curtin, Philip, The world and the West: the European challenge and the overseas response in the age of empire, Cambridge 2000.

Eckert, Andreas, Der Kolonialismus im europäischen Gedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2008), S. 31-38.

Semidei, Manuela, De l'empire à la décolonisation : a travers les manuels scolaires français, in: Revue française de pédagogie 16 (1966), S. 56-86.

Suremain, Marie-Albane de, Entre clichés et histoire des représentations : manuels scolaires et enseignement du fait colonial, in: Cock, Laurence de (Hg.), La fabrique scolaire de l'histoire, Marseille 2009, S. 76-92.