Der mittelalterliche Fernhandel

Kommentar

Das im Oldenbourg Schulbuchverlag zur Zeit der Weimarer Republik bereits in fünfter Auflage herausgegebene Lehrwerk von Dr. Karl Lorenz aus München behandelt die Epoche des Mittelalters und ist für die Oberstufe höherer Lehranstalten in Bayern konzipiert. Das bayerische Schulwesen hielt während der Weimarer Republik entgegen dem herrschenden Zeitgeist an den traditionellen Formen der Schule fest und widerstand den immer wieder erhobenen Forderungen nach Einführung neuer Reformschultypen. Es war weiterhin von der Trennung nach Konfessionen geprägt (Baumgärtner 2007).

Lorenz gibt an, mit Buch „geistige und sittliche Ertüchtigung der deutschen Jugend“ anzustreben. Beginnend mit Ausführungen über das Christentum und die Germanen, gliedert er das Buch in vier Themenbereiche und schließt mit einem Ausblick auf die neue Epoche der frühneuzeitlichen kolonialen Expansion Europas in der Welt. Die ausgewählte Passage ist im Unterkapitel „Die inneren Verhältnisse in Deutschland und das Kulturleben zur Zeit der Hohenstaufen und der Kreuzzüge“ unter dem Punkt „Die wirtschaftlichen Verhältnisse“ verortet. In dieser Passage knüpft der Autor an die im vorhergegangenen Unterkapitel – „Die Folgen der Kreuzzüge für das Abendland“ – vorgestellten Ergebnisse an.

Lorenz stellt den wirtschaftlichen Aufschwung der Städte und des Fernhandels in großen Teilen Europas als eine direkte Folge der Kreuzzüge und der Erschließung der slawischen Gebiete im baltischen Raum durch die deutsche Kolonisation dar. Die verbindende Rolle bei diesem sich neu gestaltenden „internationalen Großhandel“ wird den deutschen Kaufleuten zugesprochen. Der Austausch von Ware, Geld und Kredit zwischen dem „hoch entwickelten“
Südwesten am Mittelmeer bzw. dem Orient und dem „aufstrebenden“ Nordosteuropa sei über
die wichtigen Umschlagplätze in den oberdeutschen Großstädten wie Augsburg und Regensburg vonstatten gegangen. Welche Waren über diese Transportwege befördert wurden – Naturprodukte im Gegensatz zu den Luxuswaren, mit denen die italienischen Seestädte handelten – bleibt ausgespart.

Händler und Kaufleute waren bekanntlich eine der für das moderne Europa konstituierenden Personengruppen. Allerdings wird ihre Mitwirkung an der Erschließung des geopolitischen Raums ‚Europa’ im Allgemeinen sowohl in der Quelle als auch in dem gesamten Buch allenfalls angedeutet. Die Art der Auswirkung bzw. die Folgen dieser Vermittlerrolle für Europa werden desgleichen nicht weiter ausgeführt. Der Autor differenziert schließlich auch nicht, dass jener „Welthandel“, an dem die Deutschen wirkten, nicht das Ausmaß und auch nicht den Wert des italienischen Handels erreichte (Vercauteren 1964).

Aus der Sicht des Schulbuchautors definiert sich Europa über seine Kulturwelt und letztere hauptsächlich über das Christen- und Germanentum. Gemeint ist das Abendland bzw. das westliche Europa etwa in den Grenzen des Frankenreiches Karls den Großen. Doch ist das christliche Abendland hier noch keine dezidierte Wirtschafts- und Wertegemeinschaft, obwohl es Ansätze zu solchen Vorstellungen bereits während der Weimarer Republik gab. Die Internationalität des mittelalterlichen Städtewesens und des Handels über Italien zum Mittelmeer sind nicht der eigentliche Gegenstand der Darstellung. Lorenz kommt es v. a. auf die wirtschaftliche Entwicklung im Westeuropa und auf den Anteil Deutscher an dieser Entwicklung an. Das romantische Motiv des christlichen Abendlandes, im 19. Jh. geläufig, wird hier als Topos verwendet. Weniger als Identifikations- sondern als Kampfbegriff mutet Europa in Anspielung auf Oswald Spenglers Buch „Untergang des Abendlandes“ an, das ein geflügeltes Wort im Munde der katholisch-konservativen Publizistik der 1920er Jahre gewesen ist (Europa/Ringvorlesung 2001; Spengler 1922).

Der Lehrstoff wird in herkömmlicher Art und Weise nach den wichtigsten Ereignissen bzw. den deutschen Herrschern gruppiert, gefolgt von jeweils kurzen Übersichten auf die bedeutenden Erscheinungen außerhalb des „deutsch-römischen Reiches“. Neu ist, dass auch die wirtschaftlichen und sozialen Themen darin breit ausgeführt werden. Im Anhang finden sich Erklärungen der zentralen „kulturgeschichtlichen Grundbegriffe“. Den roten Faden des Schulbuchs bilden allerdings die deutsche Nation, ihre germanischen Wurzeln und die christliche Religion. Bereits der Untertitel des Buches „Die Neubildung der europäischen Kulturwelt durch Christentum und Germanentum (Das Mittelalter)“ verweist auf diese Kernaussage: Die Glorifizierung des deutschen Mittelalters als Grundlage der „wirtschaftlichen und kulturellen Blüte“ Europas.

Ewa Anklam

Literatur

  • Baumgärtner, Ulrich: Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte: Staatliche Politik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jh. (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 21), Idstein 2007

  • Europa und das Christentum / Ringvorlesung an der Humboldt Universität vom 2.5.2001, in: http://www2.hu-berlin.de/theologie/schroeder/europa.pdf

  • Spengler, O.: Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (in zwei Bänden), Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, 1. Aufl. München 1922

  • Vercauteren, F.: Bildatlas der Kultur und Geschichte Europas, München 1964