Die neue Unübersichtlichkeit in Europa nach 1989

Kommentar

Das von einem größeren Historiker- und Fachdidaktikerteam1 verfasste und 2001 im Cornelsen bzw. Volk und Wissen Verlag2 erschienene Schulbuch für die Bundesländer Berlin und Brandenburg wendet sich an Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Sekundarstufe 2. Die ausgewählte Passage stammt aus dem letzten Teil des Buches („Europa und die Welt: Wege und Strukturen im 20. Jahrhundert“), aus dem Unterkapitel „Das Ende des Ost-West-Konfliktes 1989/1990“ (S. 603-607). Die Autoren leiten das Thema mit einer knappen Darstellung der Entwicklungstendenzen in Europa bis zum Ende dieses Konflikts ein. Hervorgehoben wird die Bedeutung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)3 bzw. der 1975 verabschiedeten „Schlussakte von Helsinki“, die von 35 Ländern Europas und Nordamerikas unterzeichnet wurde. Sie sollte, so die Autoren, den politischen status quo in Europa und die Einhaltung der Menschenrechte garantieren.

Eingehend referieren die Autoren die neue Außen- und Sicherheitspolitik Gorbatschows, der „die Einheit der Welt“ sowie eine „friedliche globale Koexistenz“ aller Staaten angestrebt habe (S. 604). Dadurch bot sich die Chance einer Annäherung zwischen Ost- und Westeuropa, die durch die neue Politik der USA gegenüber der Sowjetunion gefördert wurde. Das veränderte geopolitische Klima eröffnete den oppositionellen Bewegungen in den „Ostblockländern“ neue Handlungsspielräume (S. 605). Diese Entwicklungen führten den Autoren zufolge aber auch zu neuen Herausforderungen: Das „Ende der bipolaren Welt“ habe eine neue Unübersichtlichkeit eingeleitet, die von gegensätzlichen Interessen geprägt sei (S. 607).

Solange die Sowjetunion bestand, war der äußere Halt für alle „Ostblockstaaten“, so auch die DDR, gegeben. Mit der Auflösung der DDR und dem Vollzug der deutschen Einheit 1990 ist der Kalte Krieg zu Ende gegangen. Europa sollte unter Einschluss der osteuropäischen Staaten neu definiert und nach Osten hin erweitert werden (Czempiel 1993; König 2008; Salewski 2009). Neu definieren musste sich auch das wiedervereinigte Deutschland (Hockerts 2004). In den neueren Geschichtsschulbüchern wird der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in der DDR hauptsächlich als Ergebnis „in einem „Zusammenwirken von begünstigenden längerfristigen internationalen Rahmenbedingungen und einer schnellen Abfolge überraschender innerer Entwicklungen in der DDR“ entsprechend dargestellt (Pingel 2009). Die deutsche Wiedervereinigung, der Zusammenbruch des „Ostblocks“ sowie die (erneute) Gründung unabhängiger Staaten aus dem Korpus der ehemaligen Sowjetunion werden zentral betrachtet und mit zukunftsträchtigen Fragen nach der Auswirkung auf den Bestand und die Beschaffenheit der EU verbunden.

Die Aufarbeitung eines zu Ende gegangenen Konflikts birgt im vorliegenden Schulbuch jedoch ein gewisses Konfliktpotential in sich. Durch die Aussage, Westeuropa gebe freiwillig nationale Souveränitätsrechte ab, „um den neuen Herausforderungen der Globalisierung durch eine starke Europäische Gemeinschaft gewachsen zu sein“ (S. 607), werden West- und Osteuropa als sich gegenüberstehende Blöcke dargestellt. Dabei steht vor allem deren gegensätzliche Entwicklung im Hinblick auf ihre nationale Eigenständigkeit im Vordergrund. Die Autoren vernachlässigen jedoch, dass es aufgrund einer völlig anderen Ausgangssituation im Osten Europas gerade nicht das vorrangige Ziel sein konnte, ein vereinheitlichendes politisches Gebilde wie die EU zu schaffen, sondern den Einzelstaaten nach einer langen Phase der Unterdrückung zunächst ihre nationale Autonomie zurückzugeben.

Mit ihrer betont positiven Bewertung der EU gehen die Autoren einerseits auf die Forderung der Kultusministerkonferenz ein, „in den jungen Menschen das Bewusstsein einer europäischen Identität zu wecken und zu fördern“.4 Andererseits halten sie sich mit ihrer Schwerpunktlegung an die Lehrplanvorgaben, in denen das Rahmenthema „Weltprobleme und -konflikte des 19. und 20 Jahrhunderts“ vorgesehen ist.5 Die hier vorgeschlagenen Kursthemen sind unter anderem die Geschichte der „bipolaren Welt 1945-1989“ und eine solche der Europäischen Integration, die positiv gewürdigt werden soll.6

Während in der Überschrift des Kapitels suggeriert wird, dass der Ost-West-Konflikt im Prozess der Europäischen Einigung als beendet angesehen werden kann, greifen die Autoren ausschließlich die Risiken auf und betonen die Konflikte, die aus den unterschiedlichen kulturellen und politischen Traditionen und Entwicklungen gespeist werden. Anstelle des „Eisernen Vorhangs“ ist, aus der Perspektive der zehn Jahre nach der Wende betrachtet, nunmehr die „neue Unübersichtlichkeit“ getreten. Die Metapher bringt zugleich zum Ausdruck, dass die Überwindung der mentalen Grenze zwischen Ost und West nicht mit der Überwindung der politischen Spaltung einhergegangen ist.

Gloria Keller

______

1 Die weiteren Autoren des Schulbuchs, um nur einige zu nennen, sind Prof. (emeritus) Hans-Christoph Schröder (TU Darmstadt); Prof. Dr. Ute Frevert, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Berlin); Prof. Dr. Ernst Hinrichs (1937-2009), deutscher Frühneuzeithistoriker, ehemaliger Direktor des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig; Prof. Dr. Gerhard Brunn, Jean-Monnet-Professor für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Siegen; Prof. Dr. Hilke Günther-Arndt, Hochschuldozentin für Geschichtsdidaktik an der Universität Oldenburg; Prof. (emeritus) Dr. Gottfried Niedhart (Universität Mannheim) u.a.

2 Der „volkseigene“ Verlag Volk und Wissen, der bisher das Monopol der Herstellung der Schulbücher in der DDR innehatte, wurde im Jahre 1991 von dem Westberliner Verlag Cornelsen übernommen, in dessem Rahmen er fortbesteht. Vgl. Pingel (2009), S. 80. Dort weiterführende Literatur.

3 Vgl. den Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8.06.1978 über „Europa im Unterricht“, die erstmals Leitlinien der europäischen Bildungsaufgabe für die Schule formuliert hat. Diese Empfehlung wurde seitdem wiederholt erneuert und fortgeschrieben. Die KSZE wird darin als ein wichtiges Element dieses Bildungsauftrags erachtet.

4 Vgl. den Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8.06.1978 über „Europa im Unterricht“.

5 Es handelt sich hierbei um den ersten für die neuen Bundesländer konzipierten vorläufigen Rahmenlehrplan, der zum Schuljahr 1991/1992 in Kraft treten sollte. Vgl. Vorläufiger Rahmenplan Geschichte, Brandenburg 1992, S. 49, in dessen Kontext „Schüler und Schülerinnen befähigt werden sollen, Entstehungszusammenhänge und fortwirkende Strukturen des internationalen Systems während der letzten beiden Jahrhunderte zu erkennen und vertiefende Kenntnisse über Formen und Folgen internationaler Probleme und Konflikte“ zu erwerben.

6 Was die Struktur der Lehrpläne und Unterrichtsgrundsätze anbelangt, wurden die Lehrpläne der neuen Bundesländer für das Fach Geschichte den alten Bundesländern angepasst. Vgl. Pingel (2009), S. 73.


Literatur:

Czempiel, Ernst-Otto, Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1993.

Europabildung in der Schule: Empfehlung der Ständigen Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland, 2008 [http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulsystem/Schulformen/Europaschulen/KMK_Europa_in_der_Schule.pdf - zuletzt eingesehen am 30.08.2010].

König, Helmut; Schmidt, Julia; Sicking, Manfred (Hg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008.

Hockerts, Hans Günter (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004.

Pingel, Falk, Geschichtsdidaktik / Geschichtsmethodik, Geschichtsschulbücher und -unterricht vor und nach der Wende, in: Die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Geschichts- und Sozialkundeerziehung: das deutsche Beispiel in koreanischer Perspektive, Braunschweig 2009, S. 71-103.

Salewski, Michael, Integration! Wie und warum Deutschland nach 1945 europäisch wurde, in: Elvert, Jürgen; Nielsen-Sikora, Jürgen (Hg.), Leitbild Europa: Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 143-155.

Vorläufiger Rahmenlehrplan Geschichte. Gymnasiale Oberstufe. Sek. II. Das Ministerium für Bildung, Sport und Jugend des Landes Brandenburg, Potsdam 1992.