Einflussgebiete in Europa nach 1805

Kommentar

Bei dem vorliegenden Buch des Verlags Ferdinand Hirt & Sohn1 handelt es sich um ein für Sachsen konzipiertes Geschichtswerk für die Oberstufe, das u.a. auch in Hamburg eingeführt worden ist.2 Die von den Schulbuchautoren Georg und Gotthold Weicker3 verwendete Bildsatire von James Gillray thematisiert das Schachern um die Einflussgebiete in Europa und der Welt nach dem Sieg der englischen über die französische Flotte bei Trafalgar (1805). Die Quelle befindet sich im Anhang als eine von 96 schwarz-weißen Abbildungen und ist thematisch Napoleon I. zugeordnet (S. 31). Sie ist zentral abgebildet und eine von vier weiteren Quellen, darunter noch zwei anderen Napoleon-Karikaturen.4 Die Autoren nehmen im Darstellungsteil „Die französische Festlandherrschaft“ (Kapitel: „Das Imperium Napoleons“) Bezug auf dieses Ereignis, ohne auf die Karikatur selber einzugehen (S. 101-106). Der Text skizziert knapp den Konflikt zwischen Frankreich und England, das sich an den französischen Plänen entzündet habe, „ein großes französisches Kolonialreich in Nordafrika, wie in West- und Ostindien“ zu gründen (S. 101).

Dramatis personae auf Gillrays Bildsatire sind die Ersten Männer ihrer Staaten: der englische Premierminister William Pitt der Jüngere und der Kaiser der Franzosen Napoleon I. Sie sitzen mit Besteck hantierend an einem Tisch vor einem Teller mit „Plumpudding“, auf dem die Weltkarte abgebildet ist, um sich daraus Portionen zurecht zu schneiden. Das Cartoon war (im Schulbuch nicht wiedergegeben) wie folgt beschriftet: „The Plumb-pudding in danger: or, State Epicures taking un Petit Souper, the great Globe itself, and all which it inherit, is too small to satisfy such insatiable appetite”. Der Künstler führt in dieser extravaganten Metapher Staatsmänner vor, ohne sich um das Dekorum hinsichtlich Alter, Geschlecht oder Stand zu scheren: Die beiden politischen Antagonisten, beide in Regimentsuniform, erscheinen als Komplizen, die sich einvernehmlich Land und Wasser teilen.5

Die Hauptaussage des Bildes steht zu dem Schulbuchtext nur in geringer Relation. Durch die fehlende Titelei der Abbildung wird der beißende Spott herausgenommen und der Fokus auf den „weltbeherrschenden“ Dualismus zwischen England und Frankreich gelegt. Die Darstellung der Folgen von Trafalgar, vornehmlich für Napoleons Kaisertum und für seine Außenpolitik in Europa, nehmen im Text einen breiten Raum ein: Im Wirtschaftskampf England-Frankreich sollte „Europa zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet im Dienste des französischen Imperialismus zusammengeschlossen werden“. Dabei ist der Begriff von Europa, den die Schulbuchautoren verwenden, vor allem ein geopolitischer. Dies wird in der Darstellung der Verschiebung des machtpolitischen Gewichtes Napoleons auf dem Kontinent im Laufe der Kriegszeit deutlich. Nach Amiens (1802) erstreckte sich die französische Vorherrschaft auf West- und Südeuropa, seit Tilsit (1807) wurde Europa in ein russisches und ein französisches Einflussgebiet geteilt. Das Autoren-Team berücksichtigt hier vor allem die Rolle Sachsens im geopolitischen System Napoleons.

Obwohl es im Text ausdrücklich heißt, dass der Kaiser das europäische Gleichgewicht erschüttert habe, wird sein Bild differenziert und keineswegs nur negativ gezeichnet.6 Der römische bzw. karolingische Anspruch auf eine Hegemonie in Europa wird als Legitimation für die kriegerische Auseinandersetzung um die Vorherrschaft zwischen den beiden Großmächten, Frankreich und England, betrachtet (S. 105). Der Kaiser wird als Erbe Karls des Großen angesehen, mit dem Frankreich die Tradition des Alten Roms wieder aufleben ließ (S. 103-105). Auf der Grundlage des römischen Rechts, so die Autoren, habe Napoleon seinen Code civil, „das erste moderne Gesetzbuch“, aufgebaut (S. 103). Seine Pläne, “aus allen Völkern Europas ein Volk und aus Paris die Hauptstadt der Welt“7 zu machen, werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Während sie Napoleons Streben nach der Universalmonarchie in einen solchen nach bloßer Hegemonie umkehren, scheinen die Autoren ihr Interesse vornehmlich auf den Aspekt eines sich auf wirtschaftlicher Basis einigenden Kontinents zu lenken. Es ist jedoch weder ein geistig-kulturell noch politisch zusammengewachsenes Europa, stattdessen ein Kontinent, in dem Frankreich in Folge der Kriege „wie einst Rom, seine Grenze vom Rhein aus an die Elbe vorgeschoben“ habe.8

In diesem in erster Auflage vorliegenden Buch kommen die von Ministerialrat Hans Richert verfassten „Richtlinien für Geschichte und staatsbürgerlichen Unterricht“ und die damit einhergehende Lehrplanrevision der höheren Schulen Preußens (1925) zum Tragen. Aufbau des Lehrbuchs im Allgemeinen und Napoleondarstellung im Speziellen können als ein Versuch gedeutet werden, eine „europäische Kultursynthese“ darzulegen, wie Hans Richert sie aus der Auseinandersetzung der deutschen mit der stärker werdenden französischen und angelsächsischen Kultur erklärte und förderte. Gemeint war mit jener „Kultursynthese“ gerade keine „anmaassende Verkettung der Völker“ (Herder), keine harmonisierende Einheit der Vielfalt etwa, sondern eine Vorstellung von einem Neben- und Gegeneinander der genuin „deutschen Kultur“ und der französisch-englischen „Zivilisation“. Aus diesem Gegensatz heraus wurde der deutsche Sonderweg seit dem 18. Jh. mit westeuropäischen Ländern verglichen und erklärt.

Ewa Anklam


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1 Der 1873 von Arnold Hirt in Leipzig als Ferdinand Hirt & Sohn weiter geführte Verlag war bis in die 1930er Jahre eins der bedeutendsten Verlagshäuser im Osten Deutschlands.
2 Kawerau, S., Denkschrift über die deutschen Geschichts- und Lesebücher vor allem seit 1923, Berlin 1927, S. 125 f.
3 Weicker, Gotthold: Dr. phil., Lehrer, Oberstudiendirektor am Wettiner Gymnasium in Dresden. Sein Co-Autor Georg Weicker war bekannt für seinen nationalistischen Jargon, revisionistische bzw. konservativ-nationale Gesinnung und antiparlamentarisches Geschichtsdenken.
4 Über Napoleon-Karikaturen zuletzt Grünes, A., Napoleonbilder in Literatur und Karikatur: simultane Mythenbildung zwischen Revolution und Restauration, Marburg 2010.
5 Oberstebrink, Ch., Karikatur und Poetik. James Gillray 1756-1815, Berlin 2005, S. 12f.
6 Napoleon wird als „endgültiger Zertrümmerer des alten Reiches“ bezeichnet, der dadurch die Grundlage eines künftigen Deutschen Reichs geschaffen habe, S. 103, 115. Vgl. Schmidt, H., Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung, in: Francia 14 (1986), S. 530-560, S. 552f.
7 Napoleon an Fouché, Dezember 1811. Zit. nach: Ullrich, V., Napoleon, Reinbek bei Hamburg 2006, 111.
8 Steinkamp, V., Die Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg, Bonn 1999.


Literatur:

Grünes, Andreas, Napoleonbilder in Literatur und Karikatur: simultane Mythenbildung zwischen Revolution und Restauration, Marburg 2010.

Kawerau, Siegfried, Denkschrift über die deutschen Geschichts- und Lesebücher vor allem seit 1923, Berlin 1927.

Oberstebrink, Christina, Karikatur und Poetik. James Gillray 1756-1815, Berlin 2005.

Richert, Hans (Hg.), Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens, Berlin 1925.

Steinkamp, Volker, Die Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg (Zentrum für Europäische Integrationsforschung, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität), Bonn 1999.

Schmidt, Hans, Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung, in: Francia 14 (1986), S. 530-560.