Habsburgs europäische Herrschaft

Kommentar

Das für die Unterprima der gymnasialen Oberstufe im Königreich Bayern konzipierte Schulbuch des früheren Gymnasiallehrers und Studienrats Hans Winter wurde im Verlag Oldenbourg aufgelegt. Der Verlag hatte eine monopolartige Stellung in Bayern inne und war zudem fachlich marktbeherrschend im Kaiserreich (Jäger 2003). Hatten die Bücher bayerischer Provenienz dem "Uniformitätsprinzip" und der Forderung nach Kontinuität Rechnung zu tragen, was übrigens für alle anderen Lehrwerke im wilhelminischen Deutschland galt, so mussten die bayerischen Autoren auch Änderungen auf dem Schulbuchmarkt berücksichtigen. Auch Winters Buch unterlag seit seiner ersten Auflage im Jahre 1895 mehreren mehr oder minder großen Überarbeitungen. Die letzte lag bereits vier Jahre (1908) zurück (Liedtke 1993).

Winter behandelt die Geschichte der Neuzeit in fünf Abschnitten, wovon sich der zweite dem "Zeitalter der Kirchentrennung und der Religionskämpfe (1517-1648)" widmet. Hier stellen die Entwicklung der Reformation in Deutschland und den Nachbarländern sowie der Dreißigjährige Krieg zwei thematische Schwerpunkte dar. Der Absatz über die Stellung Karls V. im Reich ist in das Kapitel II "Eingreifen der weltlichen Gewalt seit 1521 unter Kaiser Karl V. (1519-1556)" eingebunden. Der Überblick zum Auftreten Karls, der bekanntlich erklärter Gegner der Reformation war, auf der nationalen und europäischen Bühne leitet die wichtigsten von Deutschland ausgehenden Ereignisse seit dem Reichstag in Worms 1521 bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 ein.

Die Kämpfe in Europa um Herrschaftsgebiete sowie die Glaubensspaltung bilden zwei Narrative dieses Teils. Die sog. "kulturgeschichtlichen" Ausführungen, womit ausschließlich Kunst, Wissenschaft und Dichtung gemeint sind, werden zum Reformationszeitalter sehr allgemein gehalten und nicht im Zusammenhang etwa der kaiserlichen Repräsentation bzw. der Verherrlichung der kaiserlichen Gewalt betrachtet.

Ohne darauf näher einzugehen, erwähnt der Autor Karls "Doppelherrschaft" in Deutschland und Spanien, die habsburgische Herkunft und die spanische Erziehung. Karl sei mehr Spanier als Deutscher gewesen. Die große Ausdehnung seines Reiches, mit Besitzungen in Europa und Außereuropa, begründete, so Winter, die Verwicklungen in die Kriege gegen die Franzosen und die Türken. Beiläufig erwähnt der Autor Karls "Gedanken des christlichen Universalkaisertums". Unerwähnt bleibt, dass an diesem "europäischen" Konzept bezeichnend war, dass es sich nicht am europäischen Kontinent, sondern am westlichen Mittelmeer und dem Atlantik orientierte (Körber 2002). Winter hebt hervor, eben dieser Universalgedanke habe Karl für die Einheit der Kirche eintreten lassen, während ihn dieser zugleich im Innern in seiner Gewalt als Kaiser "ohnmächtig" machte (175). Trotz der starken und jahrzehntelangen Waffenpräsenz auf vielen Kriegsschauplätzen in Europa habe der Kaiser allerdings nicht verhindern können, dass 1552 die Bistümer „Metz, Toul und Verdun französisch geworden“ sind (176). Der Aktualitätsbezug ist an diesem für die deutsch-französische Beziehungsgeschichte prominenten Fall offenkundig. Dass Winter den Anspruch des Kaisers, „universaler" Herr der gesamten Christenheit zu sein, außer Acht lässt, ist u.a. daran abzulesen, dass der Autor nicht einmal das Scheitern dieses Konzepts bemerkt bzw. es nicht auf jenes Verwickeltsein in viele parallele politische und religiöse Konflikte zurückführt.

Auf die Tatsache, dass Karl als König von Spanien, Neapel und Sizilien, als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, Herrscher in Flandern, den Niederlanden, über ein Reich gebot, in dem nach seinen Worten, in Anspielung auf die außereuropäischen Besitzungen in Mittel- und Südamerika "die Sonne nicht unterging", geht Winter nicht weiter ein. In diesem Geschichtsbuch, das die Besonderheiten der Geschichte Bayerns bzw. die Verdienste der Wittelsbacher fokussiert, ohne mit den preußischen, als Vorlage dienenden Lehrplänen von 1901 unkonform zu werden, finden neben den starken regionalen Bezügen hauptsächlich die großen Themen der politischen Geschichte Beachtung. Diese wurde als Heimatgeschichte bzw. Weltgeschichte konzipiert. Den Leitfaden bildeten Dynastien und ihre Vertreter. Der Lehrstoff sah für die Gymnasien die stärkere Einbindung der deutschen und der bayerischen Geschichte vor, etwaige Europa- oder Großraumgedanken fanden kaum Berücksichtigung.

Bei Winter verschwindet Karls spanische "europäische Herrschaft" hinter dem nationalen, sodann bayerischen Horizont, mit dem der Schulbuchautor diese ereignisreiche Epoche der religiös-politischen Spaltung betrachtet. Die Gegenwartsbedeutung Karls in weltpolitischer Hinsicht erhält kaum Kontur. Der Anspruch auf ein „Weltkaisertum" des Habsburgers wird nicht eingelöst (Körber 2002), was in der Zeit der großen Imperien, zu denen Deutschland am Vorabend des I. Weltkrieges hinzugerechnet werden will, nur bedeuten kann, dass der Nationalstaat wenig übrig hatte für den territorial und sprachlich bunt zusammengesetzten Vielvölkerverband seiner Vorgänger. Weniger Imperialismus als vielmehr Lokalpatriotismus scheint in diesem Schulbuch des Königreichs Bayern zum "Vollstrecker eines universellen Geschichtsentwurfs" (Schneider 1982) geworden zu sein.

Ewa Anklam

Literatur:

Jäger, G., Der Schulbuchverlag, in: Jäger, G. (Hg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jh., Bd. 1: Das Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt/M. 2003, S. 62-102.

Körber, E.-B., Habsburgs europäische Herrschaft: Von Karl V. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Darmstadt 2002.

Körner, H.-M., Geschichtsunterricht im Königreich Bayern zwischen deutschen Nationalgedanken und bayerischen Staatsbewusstsein, in: Jeismann, K.-E. (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jh. Mobilisierung und Disziplinierung, Stuttgart 1989, S. 245-255.

Liedtke, Max, Spezialuntersuchungen. Schulbücher, in: Liedtke, M. (Hg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens, Bd. 2: Geschichte der Schule in Bayern. Von 1800 bis 1918, Bad Heilbrunn 1993, S. 571-580.

Schneider, G., Der Geschichtsunterricht in der Ära Wilhelms II. (vornehmlich in Preußen), in: Bergmann, K. u.a. (Hg.), Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500 bis 1980, Düsseldorf 1982, S. 132-189.