Einheit und Vielfalt der Religionen im Europa des 16. Jahrhunderts

Kommentar

Die einleitende Doppelseite des vierten Teils bietet zwei kontrastierende Karten. Während die linksseitige Karte auf einheitlich gelbem Hintergrund die Zentren der Renaissance in Europa darstellt, weist die rechtsseitige Karte mit dem Titel „Das politische und religiöse Europa des 16. Jahrhunderts“ eine bunte Palette von kräftigen Farben auf: Die Autoren zeigen das Zentrum des europäischen Kontinents als einen fragmentierten Raum die „religiöse Zersplitterung Europas“ (S. 138).

In einer ersten Abgrenzung stehen sich Europa und das Osmanische Reich (außer in der Bildlegende) gegenüber. Das Osmanische Reich wird hier durch seine beiden Religionen gekennzeichnet („Muslime und orthodoxe Christen“), ohne dass man erfährt, ob, wie und in welchem Maße diese Konfessionen koexistieren: Europa wird implizit mit dem abendländischen Christentum identifiziert. Am Ende des 7. Kapitels präzisieren die Autoren, dass „in Osteuropa die Orthodoxen überwiegen“. Eine zweite Linie trennt in Westeuropa die „protestantischen Staaten“ von den „katholisch gebliebenen Staaten oder Regionen“. Die protestantischen Staaten befinden sich im Norden: England, Schottland, die Mitte (Schweiz) und die nördlichen Teile des Heiligen Römischen Reichs, Dänemark, Schweden, Preußen, Kurland; die katholischen Staaten dagegen im Süden: Portugal, Spanien, das Königreich Neapel, der „Kirchenstaat“ (hier ist implizit die katholische Kirche gemeint), die östlichen Teile des Heiligen Römischen Reichs; Polen wird auf der Karte nicht erwähnt, gehört jedoch zu dieser Gruppe, ebenso wie Irland. Die katholische Kirche „behält ihre Vormachtstellung in den romanischen Ländern“ (S. 156).

Frankreich genießt eine Sonderstellung: Es zählt beachtliche „kalvinistische Minderheiten“, die als solche in der Bildlegende verzeichnet sind, und zahlreiche „kalvinistische Zentren“, die auch überall im Heiligen Römischen Reich oder in Polen zu finden sind. Eine dritte Spaltung betrifft schließlich die Gruppe der protestantischen Staaten, die sich in evangelisch-lutherische Staaten im Norden des Reichs, im Baltikum, in Skandinavien, und in kalvinistische Staaten „in den frankophonen und angelsächsischen Ländern“ (S. 156), d.h. hauptsächlich in den Kantonen der Schweiz, in den Niederlanden, in Schottland aufgliedern; das englische Königreich dagegen ist anglikanisch. Die „Konkurrenz der Konfessionen“ (S. 145) und der „Krieg der Kirchen“ (S. 138), jeweils durch ein holländisches Gemälde und einen Stich von Lucas Cranach dem Jüngeren veranschaulicht, verwandeln sich in „Religionskriege“, hier auf der Karte durch vier Kreise gekennzeichnet: Heiliges Römisches Reich, Westfrankreich, Pariser Region, England.
Die Autoren skizzieren in diesem Kapitel das Spannungsfeld zwischen der Einheit und der Vielfalt der Religionen in Europa. Die vorliegenden Analysen belegen die europäische Vielfalt, aber auch Elemente der europäischen Einheit: Die Darstellung der Kirche im 15. Jahrhundert, „die christliche Kirche“ im Singular, die in ganz Westeuropa von einem einzigen Drang nach Erneuerung erfasst wird; die Revolution des Glaubens im 16. Jahrhundert ist ein europäisches Phänomen, deren Dynamik auf der Karte der Seite 113 durch Pfeile dargestellt ist: Diese zeigen auf einzelne Länder im Zentrum Europas („Verbreitung des Luthertums“ von Wittenberg aus, „Verbreitung des Kalvinismus von Genf aus“, „Offensiven der Gegenreformation“); ungeachtet der Entstehung von neuen Kirchen weisen die Autoren im Schlussteil darauf hin, dass „die europäischen Kirchen alle christlich sind“ (S. 156).

Pierre-Yves Kirschleger
Übersetzung: Isabelle Quillévéré

Literatur

Chaline, Olivier, La reconquête catholique de l’Europe centrale : XVIe – XVIIIe siècle, Paris 1998.
Cottret, Bernard, Histoire de la Réforme protestante, Paris 2000.